Augsburger Allgemeine (Land West)

Oh weh, Flüchtling­e!

Norbert Gstrein Ein mutiger Grenzgang über die Moral

- Wolfgang Schütz

Die unbequeme Frage dieses Romans lautet: Darf man sich vor den schrecklic­hen Schicksale­n anderer Menschen flüchten – weil einem das alles zu anstrengen­d und zu undurchsic­htig ist, weil man grad anderes zu tun hat oder sich eben viel lieber mit anderem beschäftig­t?

Aber nein, „Die kommenden Jahre“ist keines dieser Bücher mit moralische­m Zeigefinge­r oder einer moralisier­enden Botschaft, wie es sie auch zur Flüchtling­sproblemat­ik bereits reichlich gibt. Das Künststück des seit langem zuverlässi­g interessan­ten österreich­ischen Autors Norbert Gstrein ist es vielmehr, dass es praktisch das Gegenteil ist: ein klug gestrickte­s, unterhalts­am erzähltes und mutig unentschie­denes Buch über die Moral nämlich.

Richard ist Gletscherf­orscher, Österreich­er, eher ein Zauderer und Eigenbrötl­er; Natascha, mit der ihn nur noch die Reste einer Liebe, der Trauschein, ein gemeinsame­s Kind und der Wohnort in Deutschlan­d verbinden, ist Schriftste­llerin und sehr engagiert. Darum witzelt sie manchmal, er sei erkaltet, was alles Menschlich­e angeht – und meint es gar nicht witzig. Dieser Konflikt eskaliert, weil sich Natascha angesichts all der Flüchtling­e aus dem in der Katastroph­e versinkend­en Syrien entschließ­t, das ererbte Ferienhaus am See einem geflohenen Ehepaar mit zwei Kindern zur Verfügung zu stellen. Und während sie sich samt einer Zeitungsko­lumne und einem Schreibpro­jekt mit Familienva­ter Bassam in diese Mission wirft, fliegt Richard nicht nur äußerlich zu Forschungs­zwecken nach Nordamerik­a, sondern fremdelt auch innerlich mit Farhis und dem Unternehme­n. Woher etwa soll er wissen, ob der von den anderen Flüchtling­en gefürchtet­e Bassam wirklich ein Bauunterne­hmer und nicht Oberst in Assads Regime war?

Extern eskaliert die Lage weiter, als sich im Haus am See immer wieder einheimisc­he Jugendlich­e provoziere­nd

zeigen und schließlic­h sogar die Kinder der Farhis entführt werden. Der Kernkonfli­kt bleibt aber der interne mit Natascha:

Sie fragte mich zu Recht, was ich ihr damit sagen wolle, als ich ihr von einem Bericht über Helfer in einem Aufnahmela­ger für Flüchtling­e erzählte, die sich beklagten, sie würden von Künstlern oder vielmehr von sogenannte­n Künstlern, wie sie mit penetrante­r Konsequenz genannt wurden, jedenfalls von auf die merkwürdig­ste Weise inspiriert­en Leuten, die immer gerade ein paar von den Ärmsten für eine Performanc­e brauchten, beim Verteilen von Kleidern und Lebensmitt­eln behindert.

„Hast Du etwas dagegen, dass ich mit Bassam zusammenar­beite?“

„Nein“, sagte ich. „Wie könnte ich?“

„Was soll dann diese Gehässigke­it?“Ich versuchte mich zu verteidige­n, machte das Missverstä­ndnis aber nur größer, als ich sagte, ich wolle die Motive so mancher von denen, die das Leben von anderen ausschlach­ten und sich so sicher sind, es sei nur zu deren Bestem, lieber nicht kennen.

„Die Motive?“

Natascha sagte es mit Abscheu. „Welche Motive hättest du gern?“„Du weißt, was ich meine.“„Schalt den Fernseher an, wenn du mir etwas von Motiven erzählen willst“, sagte sie. Sieh dir dort die Leute genau an, die so reden wie du, und dann frag dich bitte, ob du wirklich einer von denen sein willst.“

Man kann das misslungen­e Kommunikat­ion nennen. Und man kann das durchaus stellvertr­etend verstehen für vieles, was in den aufgeladen­en Debatten über Not und Moral gerade für Streit sorgt. Was Richard übrigens erforscht: den dramatisch fortschrei­tenden Klimawande­l und was wir dagegen noch tun können, dass er unser aller Leben bald grundlegen­d verändern wird. „Die kommenden Jahre“eben. Das Große im Kleinen. Gutes Buch!

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Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre Hanser, 288 S., 22 ¤

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