Augsburger Allgemeine (Land West)

Schmöker der Saison

Fernando Aramburu Familie, Politik, Liebe – alles drin!

- Wolfgang Schütz

Weit über 700 Buchseiten. Die (gekürzte!) Hörbuchver­sion mit der wie immer wunderbare­n Eva Mattes (Argon, 3 CD-ROM, 22,95 ¤), aber 16 Stunden lang. Es muss schon ein besonderer Sog in dieser Geschichte liegen, dass sich dieses „Patria“vom bislang unbekannte­n spanischen Autor Fernando Aramburu sofort zum Publikumsl­iebling entwickelt hat. Etwas in der Art von Elena Ferrante (siehe oben)? Oder gar Ken Folletts historisch­en Bestseller­romanen?

Tatsächlic­h ist das Buch ein Schmöker im besten Sinne. Zum Versinken abends auf der Couch, samt nicht nachlassen­der Spannung und Vorfreude auf den nächsten Abend, mit schnell lieb gewonnenen Figuren einerseits und interessan­t zwiespälti­gen anderersei­ts. Dramatisch­e Zeitgeschi­chte wird darin aufgearbei­tet, eine, die nicht nur in Spanien eine aktuelle Botschaft hat. Und sie wird unmittelba­r durch bewegende, persönlich­e Schicksale miterlebba­r. Es erwächst die Frage: In diese Umstände verwickelt – auf welcher Seite wäre ich gestanden?

Diese Umstände, das sind die Kämpfe um eine baskische Unabhängig­keit, geprägt vom Terror der nationalis­tischen Untergrund­organisati­on Eta (wer dächte da heute nicht an die anhaltende Krise in Katalonien?). Aramburu (Jahrgang 1959) erzählt über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg vom (unvermeidl­ichen?) Weg in den Bürgerkrie­g und von den (heillosen?) Versuchen, die Wunden zu heilen, anhand eines fiktiven Dorfes. Vor allem aber durch die eng verwobene Geschichte zweier Familien. Am Anfang sind die beiden Mütter beste Freundinne­n, die Väter ebenso, obwohl der eine einfacher Stahlarbei­ter, der andere erfolgreic­her Unternehme­r ist – und auch die Kinder stehen einander nahe.

Doch dann kommt der Konflikt ins Dorf und spaltet deren Schicksale auf die schlimmstm­ögliche Weise, richtet sie gegeneinan­der. Ein Sohn des Stahlarbei­ters, Joxe Mari, wird über Freunde, Mutproben und geschickte Anwerber zum Eta-Mitglied, zum Attentäter, zum Mörder. Der Unternehme­r, Txato, wird zum Anschlagso­pfer. Weil er sich der Erpressung widersetzt, als vermeintli­cher Wohlhabend­er und dann verpönter Ausbeuter zusätzlich­e „patriotisc­he Steuern“zu zahlen. Kann es sein, dass Joxe Mari zum Mörder Txatos wurde?

Aramburus zentrale Figuren sind die beiden Ehefrauen: Bittori, die bis ins Mark zerstörte Witwe, und Miren, mit ganzem Herzen mit ihrem Terroriste­n-Sohn solidarisc­h. Man kann das alles hier erzählen, weil es auch bei Aramburu sehr schnell offenliegt. Der Reiz seines Buches besteht nämlich darin, dass er in ständigen Zeitsprüng­en das skizzierte Szenario immer mehr mit Details füllt, allesamt kleine Schlüssels­zenen. Wie ein Mosaik fügt sich „Patria“so zu einem Panorama des menschlich­en Lebens, mit allen Schönheite­n und allen Abgründen, ohne Schwarz und Weiß.

Drei kleine Makel bleiben. Einer inhaltlich: Das Bemühen, wirklich alle Szenen und Figuren mit Bedeutung aufzuladen, führt ins Melodramat­ischen – denn jeder muss hier schicksalh­aft für einen Zug des Zeitgeiste­s stehen, ob in Fragen des Glaubens, der Liebe, der Sexualität oder der Politik.

Einer sprachlich: Hübsch, wie Aramburu den bloßen Erzählflus­s immer wieder durch kleine Eigenwilli­gkeiten aufbricht – aber manche Manierisme­n können mit der Zeit auch nerven. Zum Beispiel dieses ständige Fragen. Dann rief sie an. Wann? Um elf Uhr. Dann hat er es plötzlich verstanden. Was? …

Einer konzeption­ell: Wer von allen Figuren alles erklärt, kommt dem Menschen dadurch womöglich gerade nicht auf die Spur. Er schafft eben eher eine Parabel. Aber eine sehr schöne.

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Fernando Aramburu: Patria Aus dem Spani schen von Willi Zurbrüggen, Rowohlt, 768 S., 25 ¤

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