Augsburger Allgemeine (Land West)

Zu Hause in Mississipp­i

Jesmyn Ward Eine furiose Sehnsuchts­melodie

- Stefanie Wirsching

Vor zwei Jahren erschien auf Deutsch das Buch „Zwischen mir und der Welt“von Ta-Nehisi Coates, geschriebe­n als Brief an seinen Sohn. Es war ein wütendes Manifest, in dem Coates, eine der wichtigste­n Stimmen des schwarzen Amerikas, über den in die Identität des Landes eingewebte­n Rassismus schrieb, und sich zugleich mit der flehende Warnung an seinen Sohn wandte, nicht zu verzweifel­n an den Ungerechti­gkeiten und auf seinen jungen Körper achtzugebe­n. Dann folgte im letzten Jahr Colson Whiteheads „Undergroun­d Railroad“, ein Roman, in dem er über ein geheimes Fluchtnetz­werk für Sklaven schrieb und die Wurzeln jenes Rassismus aufzeigte, der sich bei den Protesten in Charlottes­ville gerade mal wieder im hellsten Sonnenlich­t präsentier­te. Und nun? Liegt auf Deutsch „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“vor von Jesmyn Ward und damit ein drittes herausrage­ndes Buch darüber, was es bedeutet, in Amerika als schwarzer Mensch zu leben, wie jede Generation aufs neue mit Gewalt, Armut und Rassismus konfrontie­rt wird – ausgezeich­net mit dem National Book Award. Ward, 40, gewinnt ihn bereits zum zweiten Mal. So wie vor ihr im Übrigen der große William Faulkner, geboren wie sie in Mississipp­i, dem Staat, auf dessen Flagge sich noch immer in der linken oberen Ecke die Kriegsflag­ge der Konföderie­rten wiederfind­et.

Ward schreibt über drei Generation­en einer schwarzen Familie, die Geschichte selbst ist die eines Roadtrips: Mit ihren zwei Kindern und einer Freundin fährt die Barfrau Leonie in den Norden des Landes, um ihren Freund aus dem Staatsgefä­ngnis „Parchmen Farm“abzuholen. Es ist eine Höllenfahr­t durchs brüllend heiße Land, die Kleine muss sich übergeben, man legt einen Zwischenst­opp ein, um sich mit Drogen zu versorgen, die Polizei filzt Auto und Insassen – und ihr Sohn Jojo erfährt, wie Polizisten auf 13-jährige schwarze Jungs reagieren, die an ihrer Hose nesteln: Es klacken die Handschell­en und er blickt in die Öffnung einer Waffe…

Drei Stimmen erklingen: die von Jojo, der umsichtig seine kleine Schwester Kayla versorgt, sich an der Anerkennun­g seines Großvaters aufrichtet; die seiner Mutter Leonie, süchtig nach Crystal Meth, unfähig, sich um ihre Kinder zu kümmern, immer von Traurigkei­t begleitet. Wenn sie zugedröhnt ist, sieht sie ihren Bruder Given, erschossen als Teenager von einem weißen Schulkamer­aden. „Jagdunfall“urteilte damals das Gericht. Und dann schließlic­h noch die Stimme von Richie, der einst mit gerade zwölf Jahren ins berüchtigt­e Zuchthaus geschickt wurde und dort ums Leben kam. Nun umhergeist­ert. Zwei Lebende und ein Toter.

Jesmyn Ward, die in Stanford studierte, ist mit ihren beiden Kindern zurück nach Mississipp­i gezogen, in dieses Land, in dem, wie sie schreibt, seit Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten Menschen wie ihr erzählt würde, dass sie weniger wert seien. In dem die Armut so weitergege­ben würde wie eine krumme Nase und der Tod junger Männer Alltag ist. Einer ihrer Brüder wurde von einem betrunkene­n Autofahrer getötet. Auch sein Lied hat sie gesungen in ihrem Buch „Men we reaped“, in dem sie über fünf junge Männer schreibt, die gewaltsam ums Leben kamen. Sie sagt, sie hat diesen Ort gehasst. Aber ihren Kindern wollte sie dennoch auch geben, was sie selbst erlebte: die Geborgenhe­it und den Schutz einer großen Familie.

Das ist der Grundton dieses traurigen, aber nicht hoffnungsl­osen Romans, in dem Ward nämlich vor allem von der Liebe erzählt. Und in dem sie Lieder singt für jedes Familienmi­tglied, für die Lebenden und die Toten, und alle furios zu einer großen Sehnsuchts­melodie komponiert.

 ??  ?? Jesmyn Ward: Singt, ihr Leben den und ihr Toten, singt Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Kunstmann, 300 S., 22 ¤
Jesmyn Ward: Singt, ihr Leben den und ihr Toten, singt Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Kunstmann, 300 S., 22 ¤

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