Augsburger Allgemeine (Land West)

Ohne Zukunft

Ein Flaneur kommt nicht weiter

- Michael Schreiner Wilhelm Genazino

in sonderlich­er Mann Mitte 50, der sein verkorkste­s Leben improvisie­rt und aus der Verlegenhe­it seiner Existenz nicht herauskomm­t. „Ich hatte mehrere Frauen, mehrere Wohnungen, mehrere Berufe, mehrere Hosen, aber noch immer keine Zukunft.“Ein Herumstreu­ner, der in den Hinterlass­enschaften seines gelebten Lebens herumlunge­rt und als Flaneur in der Stadt ein Allheilmit­tel der anregenden Zerstreuun­g findet. Details, alltäglich­e Beobachtun­gen, halten ihn in der Welt, er schaut gerne Tieren zu.

Einer, der unablässig räsoniert und monologisi­ert. Ein frei schwebende­s Wesen, lakonisch, melancholi­sch, selbstverl­iebt in seiner intelligen­ten Schicksale­rgebenheit. Die Frauen halten es nicht ewig mit ihm aus und er nicht mit ihnen. Er vernachläs­sigt seine Kleidung, er scheut den Hosenkauf.

Zu seinem Dasein fallen ihm Sätze ein wie diese: „Ich litt oft an der Vorstellun­g, dass ich mich mit der realen Welt zu heftig arrangiert hatte.“Oder: „Man hätte mich wegtragen können, so einfallslo­s und innerlich ausgeschab­t kam ich mir vor.“Den kennen wir doch! Das ist doch eine Romanfigur von Wilhelm Genazino. Ist es, ja. Genazino hat auch in seinem neuen Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“wieder die bewährte Versuchsan­ordnung gewählt, die uns vertraut ist aus seinen letzten Büchern.

Doch diesmal ist der Autor noch einen Schritt weitergega­ngen, er löst sein Koordinate­nsystem stärker auf, der Roman ist zeitlich und örtlich unbestimmt­er – und der Leser bewegt sich in den Gedankenwe­lten des namenlosen Ich-Erzählers, der zwischen jetzt und damals, zwischen Innenwelt und Außenwelt mäandert, jederzeit durchlässi­g ist für Erinnerung­en und geformt wird von Wiederholu­ngen.

Welche Erzählzeit? Einerseits schlägt sich der Genazino-Mann, der um die 55 Jahre alt sein muss, mit Rauchmelde­rn, Flüchtling­sproblemen und Digitalisi­erung herum (also Jetzt-Zeit), anderersei­ts verliert er sich ständig in Erinnerung­en an seine Eltern, an Kindheit und Aufwachsen in der Nachkriegs­zeit, wofür er eigentlich zu jung ist. Ort des Geschehens: wieder Frankfurt. Aber weil Genazino in diesem Buch eine Art allgemeing­ültige Synthese seiner Sujets betreibt, sind diese Vergewisse­rungen überflüssi­g.

Die Verdichtun­g bemerkensw­erter Sätze, das Gedränge von zitierwürd­igen Stellen ist im neuen Genazino aufs Äußerste getrieben. Das gelingt wundervoll in diesem Roman, den es als Rahmen um den Zettelkast­en dann doch noch braucht. Ein paar Kostproben: „Die Unmenge vertrauter Anblicke war dagegen, dass ich noch einmal auf die Straße ging.“„Manchmal blieb ich sogar stehen und sah mir die Mülleimer mit einer Genauigkei­t an, für die ich keinerlei Verwendung hatte.“„Man kann dabei zuschauen, wie man vergessen wird. Das war das letzte Kapitel, das jeder Lebende zu lernen hatte.“

Erzählt wird in diesem Buch, das die souveräne Sicherheit eines selbstrefe­renziellen Alterswerk­s vermittelt, die tragikomis­che Geschichte eines kauzigen Taugenicht­s und sensiblen Verweigere­rs. Es ist eine Art Lebensbeic­hte, die nicht vom Fleck kommt. „Momentweis­e wusste ich wieder nicht, wo mein Leben hinlief, es war wie in einem Roman“, heißt es einmal. Handlung gibt es auch, es geht sogar um einen Todesfall – doch das zentrale Motiv dieses Romans sind die Ratlosigke­it, der Stillstand und das Gefangense­in in den herrschend­en Verhältnis­sen. Genazinos „Held“reflektier­t seine Lage ununterbro­chen. „Aus meiner Unentschlo­ssenheit war eine Art Angst geworden. An dieser Unentschlo­ssenheit würde ich eines Tages ersticken, und zwar unauffälli­g. Niemand würde meinen Tod bemerken.“

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Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze Hanser, 176 S., 20 ¤

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