Augsburger Allgemeine (Land West)
Hier lernen Kinder, in der Fremde Fuß zu fassen
Jugendarbeit gibt es an fast allen Schulen im Landkreis Augsburg. Sie kann jungen Europäern beim Einleben in Deutschland helfen. Und dabei können auch die einheimischen Kinder profitieren
Landkreis Augsburg So richtig weiß Sándor noch gar nicht, was eigentlich mit ihm geschehen ist. Bis zu den letzten Ferien ging er noch in die fünfte Klasse seiner Schule in Ungarn, jetzt sitzt er im Unterricht in einer ländlichen Gemeinde des Landkreises Augsburg. Klar, sein Vater hatte schon vor zwei Jahren eine Stelle in einem hier ansässigen Unternehmen gefunden. Aber weil seine Mutter nun auch eine Zusage in ihrem Pflegeberuf erhalten hatte, ging es plötzlich mit dem für „irgendwann“geplanten Umzug ganz schnell. Da er noch kein Deutsch kann, bekommt er vom Unterricht nicht viel mit, gerade mal die Rechenoperationen im Mathematikunterricht erkennt er wieder. Mit seinen Klassenkameraden kann er sich auch nicht unterhalten.
Das wäre der Moment, in dem, würde Sándor an der Mittelschule in Dinkelscherben unterrichtet, Jugendarbeiterin Carola Burger vom Frère-Roger-Kinderzentrum mal bei dem Jungen vorbeischauen würde. Sándor gibt es so aber gar nicht. Stattdessen ist er ein Beispiel dafür, was die Sozialpädagogin aus ihrer Erfahrung mit jungen Migrantenkindern in der Jugendarbeit an Schulen erzählt. Solche Erfahrungen haben Kinder wirklich gemacht.
Die Jugendarbeiterin kümmert sich um Kinder und Jugendliche, die als Migranten aus Europa oder anderen Ländern der Welt an die dortige Schule kommen, sie hilft ihnen bei der Eingewöhnung und beobachtet, ob sie in der bayerischschwäbischen Gesellschaft und Kultur Fuß fassen. Das fängt bei Infos darüber an, wie das Schulsystem in Bayern aufgebaut ist, und geht bei Jugendlichen über Themen der Berufsorientierung bis dahin, für die Mädchen und Jungen zur Vertrau- ensperson zu werden. Denn zwei Dinge seien es vor allem, die darüber entscheiden würden, wie gut und schnell sich die Kinder in ihrer neuen Heimat zurechtfinden, fasst Verena Nittmann zusammen. Sie arbeitet im Frère-Roger-Kinderzentrum in der Bereichsleitung der Angebote an Schulen, die für die Gemeinden die Sozialpädagogen stellen. So sei es einerseits das Beherrschen der deutschen Sprache, das über eine gelungene Integration entscheide. Auf der anderen Seite stehen, in fast ebenso wichtigem Maß, der Rückhalt und die Förderung im Elternhaus.
Weil sich dabei, die oftmals vorhandene Sprachbarriere einmal außer Acht lassend, die Lebensumstände der jungen Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern nicht so stark unterschieden, setzt die Jugendarbeit bei allen Kindern und Jugendlichen gleich an: Betrachtet wird der Einzelfall. „Wir wollen sie rechtzeitig abholen und ihre Kompetenzen fördern“, erläutert Nittmann.
Dabei sind die Eltern ein wichtiger Ansprechpartner für Carola Burger. „Dreh- und Angelpunkt“ihrer Arbeit, so sagt sie, sei zudem der Austausch mit den sogenannten Drittlehrkräften an der Grund- und Mittelschule Dinkelscherben. Dort sind zwei Lehrerinnen allein damit beschäftigt, Kindern Deutsch beizubringen. In Dinkelscherben kommen besonders viele Migrantenkinder aus südosteuropäischen Staaten wie Rumänien oder Kroatien, aber auch aus Italien oder spanisch sprechenden Ländern auf der ganzen Welt. Damit diese Kinder schnell in die Gesellschaft finden, setzt sich die Jugendarbeiterin auch dafür ein, dass sie nach dem Unterricht die Betreuung in der offenen Ganztagstagsschule besuchen. Sprachkompetenz, auch beim Lesen, könnten hier besser gefördert werden, gibt Carola Burger ein Beispiel.
Jugendarbeit richte sich aber an alle Kinder, betont Verena Nittmann. Auch sie profitieren von der Jugendarbeit, in Projekten für alle wie dem „fairen Raufen“oder auch in der Integration von Migranten. In einem Seminar wird versucht, den Spieß einmal probeweise umzudrehen. Zwei neue Schüler, etwa aus Ungarn, unterhalten sich dabei in ihrer Muttersprache. Jetzt sind es die Dinkelscherber Kinder, die sich ausgegrenzt fühlen und nichts vergar stehen. Mit diesem Rollenspiel sollen Demokratieverständnis und Einfühlungsvermögen aller gestärkt werden.
An fast allen der mehr als 60 Grund- und Mittelschulen des Landkreises gibt es inzwischen diese Art der Jugendarbeit. Die nachhaltigen Erfolge dieser Art der Prävention seien inzwischen messbar, ist Verena Nittmann überzeugt. So sei die Jugendkriminalität im Landkreis vom Jahr 2014 (1448 Fälle) spürbar zurückgegangen auf 1379 Fälle 2017. Auf der anderen Seite habe in den vergangenen Jahren an der Mittelschule Dinkelscherben kein Absolvent die Schule „unversorgt“, also ohne Ausbildungsvertrag oder weiterführenden Schulplatz verlassen, ergänzt Carola Burger.