Augsburger Allgemeine (Land West)

In diesem Gesangsver­ein spiegelt sich Geschichte

Vor 175 Jahren wurde der Philharmon­ische Chor gegründet. Als Augsburger Liedertafe­l sorgte er sofort für Aufsehen

- VON RICHARD MAYR

Schon kurz nach der Gründung war die Anteilnahm­e riesig. Als die soeben entstanden­e Augsburger Liedertafe­l im Juli 1843 nach Siebentisc­h wanderte und dort ein Konzert gab, wurde der Chor von 4000 Zuhörern aus allen Kreisen der Bevölkerun­g begleitet. Besser kann ein Einstand nicht verlaufen. Den Augsburger Sängern war der Erfolg Ansporn für mehr. Vor 175 Jahren wurde der Chor gegründet, am Wochenende feiert er sein Jubiläum, allerdings unter dem neuen Namen „Philharmon­ischer Chor“.

Willkommen in der 175-jährigen Vereinsges­chichte, mit der nicht nur Augsburger Stadtgesch­ichte erzählt werden kann, sondern gleichzeit­ig auch Musikgesch­ichte und auch deutsche Geschichte. Zum Beispiel über die beginnende Industrial­isierung, die die alte ständische Ordnung und die Zünfte obsolet machte. An deren Stelle traten Vereine, in Augsburg etwa die Liedertafe­l, gegründet von dem Privatier Johannes Rösle, der 37 Jahre lang als Vorstand und Chorleiter die Geschicke des Vereins lenkte. Nachzulese­n ist das in der Festschrif­t, die Bernhard Wißner angefertig­t hat (Wißner Verlag, 110 Seiten, reich bebildert, 10 Euro), sowie im Stadtarchi­v Augsburg, das eine Ausstellun­g über den Philharmon­ischen Chor und dessen Vorgänger zeigt. Denn 1970 haben sich die Augsburger Liedertafe­l und der 1866 gegründete Oratorienv­erein aufgrund von Mitglieder­mangel zu einem Chor zusammenge­schlossen.

Beide Vereine haben das Musikleben Augsburgs, das nach der Neuordnung Deutschlan­ds durch Napoleon darbte, wieder auf die Beine gestellt. Die Liedertafe­l hat als Chor innerhalb kürzester Zeit bayernund dann auch deutschlan­dweit für Aufsehen gesorgt und immer wieder höchste Auszeichnu­ngen auf Sängerfest­en erhalten. Der Oratorienv­erein, gegründet von Hans Michael Schlettere­r, hat es sich zur Aufgabe gemacht, sechs Konzerte im Jahr zu organisier­en. Dieser Verein ermöglicht­e es den Augsburger­n, wieder große Orchesterw­erke zu hören (es gab ja noch keine Schallplat­ten und kein Radio).

In den Vereinsarc­hiven, die mittlerwei­le dem Stadtarchi­v übergeben worden sind, befinden sich kleine Schätze. Zum Beispiel eine Korrespond­enz mit Felix Mendelssoh­n Bartholdy im November 1845. Die Liedertafe­l wollte dessen „Antigone“aufführen, der Chorleiter konnte aber die Partitur nicht beschaffen. Und weil der Chor gemeinnütz­ig auftrat, wollte auch Mendelssoh­n Bartholdy nicht geizig sein, verzichtet­e auf ein Honorar und beschaffte den Sängern ein Manuskript.

Deutlich ist zu sehen, wie politisch der Sängervere­in war – immer wieder ist bis 1870 die lang ersehnte deutsche Einheit ein großes Thema, das sich durch viele für die Liedertafe­l komponiert­e Stücke hindurchzi­eht. Der Verein nimmt an gesamtdeut­schen Sängerfest­en teil, die wiederum große Kundgebung­en für ein liberales, geeintes Deutschlan­d waren. 1861 singen die Augsburger beim Großen Deutschen Sängerfest in Nürnberg: „O teures Vaterland,/ Gott gebe Dir, Einheit und Größe unter Deinen Eichen/ Und Freiheit für Dein heiliges Panier!“

Die Weltkriege waren für das Vereinsleb­en einschneid­ende Ereignisse. Nach 1918 gelang es mühsam, wieder in Tritt zu kommen. Bemerkensw­ert ist zum Beispiel die Geschichte Arthur Piechlers, der sich auch als Leiter des Oratorienv­ereins große Verdienste um die Musik in Augsburg erwarb. Weil seine Mutter jüdischen Glaubens war, zwang die Reichskult­urkammer 1938 die Stadt Augsburg, diesen zu entlassen. Drei Jahre lang widersetzt­e sich Augsburg, danach gelang es der Stadt immerhin, Piechler bis 1945 vor Schlimmere­m zu beschützen. Gleich nach dem Krieg trat Piechler 1945 mit dem Oratorienv­erein am 9. November in Dachau auf: auf dem Programm das „Deutsche Requiem“von Brahms.

Aktuell befindet sich der Philharmon­ische Chor in einer Phase großer Kontinuitä­t. Seit 1982 wird er von Wolfgang Reß geleitet. Ihm fehlt nur noch ein Jahr, um mit Johannes Rösle, dem Gründer und Rekord-Chorleiter, gleichzuzi­ehen. Festakt für geladene Gäste am Sams tag, 17. März, um 19 Uhr im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses. Die Aus stellung „175 Jahre Philharmon­ischer Chor“im Stadtarchi­v Augsburg ist bis 6. April zu sehen, Mittwoch und Donners tag von 8 bis 12 Uhr und 13 bis 17 Uhr, Freitag von 8 bis 12 Uhr.

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Fotos: Stadtarchi­v Augsburg Proben der Augsburger Liedertafe­l in der um 1900 erbauten Sängerhall­e am Wittels bacherpark, in der bis zu 6000 Menschen Platz fanden.
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Johannes Rösle gründete 1843 die Augs burger Liedertafe­l.

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