Augsburger Allgemeine (Land West)
Persönliche Erinnerung und politische Einordnung: Warum sie notwendig war, was sie wirklich gebracht hat –
Es gibt Jahre, die die Welt umkrempeln und eine historische Zäsur markieren. Jahre, die im Gedächtnis der Menschen gespeichert bleiben und die Zukunft ganzer Gesellschaften prägen. Jahre, nach denen nie mehr alles so ist, wie es vorher war. 1968 war so ein herausragendes Jahr. Es steht für jene 68er-Bewegung, die Gesicht und Mentalität der Republik verändert und verkrustete Strukturen aufgebrochen hat. „1968“ist zur Chiffre einer Generationenrevolte geworden, die mit ihren tollkühnen Umsturzplänen scheiterte und doch eine gewaltige gesellschaftspolitische Wirkung erzeugte. „1968“ist ein Mythos, der noch heute, ein halbes Jahrhundert danach, die Fantasie und den öffentlichen Disput beflügelt.
Ein Mythos lebt von alten Geschichten und Heldensagen. Und wir, die 68er, die wir nun schon in Rente oder kurz davor sind und überwiegend die Früchte eines langen Erwerbslebens im Dienste des in jungen Jahren verhassten „Systems“genießen, erzählen die alten Geschichten immer wieder gerne. Wie es damals wirklich gewesen ist, was wir erreicht haben und wie schlimm es heute um Deutschland stünde, wenn wir nicht aufbegehrt hätten gegen erstarrte Institutionen, „faschistoide“Tendenzen und eine im Glück des Wohlstands versunkene, über ihren Tellerrand nicht mehr hinausschauende Gesellschaft.
Diese alten schönen Geschichten erzählen von einer Generation, die ihr Schicksal in die Hand nehmen wollte und sich nicht, wie es angeblich die Jugend heutzutage tut, mit dem Vorgefundenen begnügt, sich nicht wirklich einmischt in die Politik. All diese schönen Geschichten handeln von der Hoffnung auf eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt und der Befreiung des Menschen aus den Zwängen eines kapitalistischen Systems und einer stockkonservativen, autoritären Gesellschaft. Wir träumten vom „neuen Menschen“, von der Gleichberechtigung der Frauen, von unmittelbarer Demokratie oder, ja, auch das, von gutem Sex nach dem Motto: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“Ganz so wild übrigens, wie das polygame Leben in der legendären „Kommune 1“um Fritz Teufel und Uschi Obermaier und die Sprüche der Jünger des Orgasmus-Herolds Wilhelm Reich suggerierten, war das mit dem Sex und den Drogen nicht. „Die Mehrheit war doch“, wie der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit gestanden hat, „ziemlich verklemmt.“Ganz Kinder ihrer Zeit halt – aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der nichteheliche Kinder eine Schande waren, die Pille eben erst erfunden war, homosexuelle Handlungen mit Strafe belegt waren und Vermieter Gefahr liefen, wegen eines nächtlichen Damenoder Herrenbesuchs der „Kuppelei“bezichtigt zu werden. Aber so ist das halt mit den alten, zur Verklärung neigenden Geschichten. Die 68er stammten im Regelfall aus bürgerlichen, gut situierten Verhältnissen und schleppten den dort herrschenden Moralkodex mit sich herum. Sich davon in der Praxis zu lösen, fiel auch der selbst ernannten Avantgarde des historischen Fortschritts ziemlich schwer.
Ich war 1968, als in der ganzen westlichen Welt die Proteste gegen das „System“, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und den Vietnam-Krieg der „US-Imperialisten“aufbrandeten und in den Metropolen Hunderttausende demonstrierten, 17 Jahre alt und Schüler in einem katholischem Gymnasium. Der klassische 68er war ein paar Jahre älter und Student. Und natürlich war in der beschaulichen schwäbischen Kleinstadt Illertissen, wo ich geboren und aufgewachsen bin, von der weltweiten Revolte wenig zu spüren. Die meisten Bürger registrierten, was in Paris oder in Westberlin, dem Zentrum des deutschen Aufruhrs, los war – und fanden ziemlich schaurig, was sich da plötzlich abspielte in der bis dahin ruhigen, von einer sehr Großen Koalition regierten Republik.
Sie schauten beunruhigt in die USA, wo es nach dem Mord an dem schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King zu massiven Protesten kam und der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg eskalierte. Sie verfolgten entsetzt, wie der Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion in die Tschechoslowakei einmarschierte und Dubceks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“liquidierte. Aber so stürmisch dieses Jahr auch war: In Illertissen nahm das Leben, wie in den meisten Regionen des Landes, seinen gewohnten Gang. „1968“war ja das Werk einer großstädtischen, akademischen, intellektuellen Elite, die – insbesondere auch im Kampf gegen die Notstandsgesetze der Regierung – Zehntausende auf die Straße brachte, deren aktivistischer Kern jedoch nur aus einigen tausend Menschen bestand. Die Speerspitze dieser Außerparlamentarischen Opposition bildete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der mit seinen „sit-ins“, HörsaalBesetzungen und teils gewalttätigen Aktionen die Universitäten aufmischte und gegen die „SpringerPresse“ mobilmachte. Ich verfolgte das fasziniert und studierte die Pamphlete, Reden und Schriften der SDS-Führer und ihrer ideologischen Wegbereiter. Ich fuhr nach Ulm, als dort die Brüder Wolff, zwei Ikonen des SDS, aufkreuzten und die Revolution predigten. Ich fand Rudi Dutschke, den charismatischen, beredsamen SDS-Wortführer gut – und war maßlos entsetzt über das Attentat auf Dutschke, das im April von einem Rechtsextremen verübt wurde. Er überlebte mit schweren Kopfverletzungen und erlag 1979 den Folgen des Anschlags.
In Illertissen gab es keine „Apo“, wohl aber einen kleinen Kreis von 68ern, denen die antiautoritäre Stoßrichtung der Proteste gefiel und die den örtlichen Institutionen und Etablierten den Spiegel vorhalten wollten. Ich gehörte dazu und war beseelt vom Geist der 68er-Bewegung und der Idee, die Gesellschaft grundlegend umzubauen. Ich stand links, ohne mit einer der kommunistischen, trotzkistischen, anarchistischen Fraktionen des alsbald sich selbst zerlegenden SDS zu sympathisieren. Ich war, um in der Diktion des SDS zu reden, unverbesserlicher „Reformist“und kein Revolutionär. Einer, der beim FV Illertissen passabel Fußball spielte, bei der Lokalzeitung mitarbeitete, gern nächtelang diskutierte, zum Ärger der Mutter die Haare sehr lang trug und mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden war. Aber ich wollte meinen kleinen Beitrag dazu leisten, damit es fortan liberaler und demokratischer zuging in diesem Land und die Leute, die Illertisser, irgendwie wachgerüttelt wurden.
Ich verweigerte den Kriegsdienst und gründete im Stadel neben unserem Wohnhaus ein Büro für Kriegsdienstverweigerung, das auch wegen des regen Zuspruchs gleichgesinnter Kameradinnen einigen Anstoß in Illertissen erregte. Wir ließen uns, Gitarre spielend und die Rolling Stones hörend, auf dem Marktplatz nieder, gerne auch mit