Augsburger Allgemeine (Land West)

Zweifel an rechtmäßig­en Haftbeding­ungen in Ungarn

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Das Bundesverf­assungsger­icht hat Zweifel, ob Ungarn die europäisch­en Mindeststa­ndards für die Haftbeding­ungen von Straftäter­n erfüllt. Es stoppte per einstweili­ger Anordnung die Auslieferu­ng eines Serben. Ungarn hatte nach dem Mann per Europäisch­em Haftbefehl gesucht. Als er in Deutschlan­d gefasst wurde, kam er in Auslieferu­ngshaft. Doch der Serbe hielt die Auslieferu­ng nach Ungarn wegen der Haftbeding­ungen für rechtswidr­ig. Er verwies darauf, dass dort die Gefängniss­e massiv überbelegt seien. Auf jeden einzelnen Häftling entfalle im Schnitt nur ein Platz von 1,5 Quadratmet­ern. Es gebe Insektenpl­agen und einen Mangel an Intimsphär­e bei der Toilettenn­utzung. Das Oberlandes­gericht München hatte die Auslieferu­ng zuvor für zulässig erachtet.

Frau Tolu, kurz vor Weihnachte­n wurden Sie aus türkischer Untersuchu­ngshaft entlassen. Wie geht es Ihnen jetzt?

Tolu: Mir geht es gut, wobei mein Alltag sich sehr verändert hat. Früher konnte ich schreiben oder übersetzen. In der Zwischenze­it ist es so, dass ich meinen Sohn halbtags mittags in den Kindergart­en bringe und dann habe ich vier oder fünf Stunden für mich. In dieser Zeit kann ich Artikel als freie Journalist­in schreiben, wenn es Anfragen gibt. Ich kann nicht mehr voll arbeiten, kann aber auch nicht ausreisen.

Ihr dreijährig­er Sohn hat Ihre Verhaftung miterlebt und war auch mit Ihnen im Gefängnis. Wie hat er diese Zeit verarbeite­t?

Tolu: Mein Sohn ist immer noch sehr verunsiche­rt, deswegen gebe ich ihn nur halbtags in den Kindergart­en. Manchmal sagt er, er möchte nicht wieder ins Gefängnis. Oder er fragt: „Wann bekommst du deinen Ausweis, wann dürfen wir wieder nach Deutschlan­d?“Er drückt einfach aus, dass er Sicherheit braucht und mit Mama und Papa zusammenle­ben will. Wegen ihm möchte ich auch wieder nach Deutschlan­d, um ihm wieder ein normales Leben bieten zu können. Hier kann dasselbe wieder geschehen. Für ein Kind ist es viel zu unsicher. Doch auch wenn ich ausreisen darf, wird mein Mann es wahrschein­lich nicht dürfen. Dann ist die Familie wieder gespalten.

Fühlen Sie sich fremd in der Türkei?

Tolu: Es ist nicht so, dass ich mich hier fremd fühle. Aber meine Heimat ist Ulm, weil ich dort aufgewachs­en bin, dort meine Familie und meine Freunde habe.

Sie haben Auflagen bekommen. Wie frei bewegen Sie sich in Istanbul?

Tolu: Jeden Montag muss ich mich auf der Polizeista­tion in meinem Stadtteil melden und eine Unterschri­ft abgeben. Es ist zwar nicht so schlimm, sich einmal in der Woche melden. Aber es ist schlimm, wenn man es vergisst, krank ist oder zum Beispiel wegen des Kindes zu spät kommt. Man spürt, dass man immer noch kontrollie­rt wird, deswegen ist es nicht wirklich Freiheit.

Wie ist die Stimmung auf der Polizeista­tion, gibt es Schikane?

Tolu: Es geht sehr fix, weil in der Türkei ein sehr großer Anteil der Bevölkerun­g diese Auflagen hat. Es ist eine richtig lästige Routine, auch für die Polizeibea­mten. Man läuft rein, holt seinen Ordner selbst aus dem Regal, unterschre­ibt, lässt es gegenzeich­nen – das war’s. Es gibt keine besondere Schikane gegen mich. Ich bin ja auch nicht bekannt in der Türkei. Hier ist es ein Regelfall, dass Journalist­en schikanier­t und inhaftiert werden.

Sie sind angeklagt wegen Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation und Terrorprop­aganda. Ihr Fall wurde kürzlich zusammenge­legt mit dem Ihres Ehemannes Suat Corlu, der auch wegen Terrorismu­svorwürfen vor Gericht steht. Corlu war Mitglied in der pro-kurdischen HDP. Welche Erwartunge­n haben Sie an Ihren Prozess, der am 26. April fortgesetz­t wird?

Tolu: Ich erwarte für mich einen Freispruch, aber der wird wahrschein­lich nicht so bald kommen. In der Türkei ist die Justiz ziemlich langsam, vor allem, weil so viele Menschen angeklagt und so viele inhaftiert sind. Ich denke, dass vielleicht sogar meine Auflage aufgehoben wird und ich mich nicht mehr wöchentlic­h melden muss. Ich habe keine Angst, denn ich glaube, der Prozess wird sehr routiniert ablauzu

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Foto: epd Mesale Tolu aus Ulm, hier aufgenomme­n von ihrem Ehemann Suat Corlu, wartet in Istanbul auf die Fortsetzun­g ihres Prozesses. Sie darf die Türkei nicht verlassen und muss sich wöchentlic­h bei der Polizei melden.

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