Augsburger Allgemeine (Land West)
„Kinderarmut verfestigt sich in Bayern“
Interview Der wirtschaftliche Aufschwung geht an vielen Familien vorbei, kritisiert der Chef der Arbeiterwohlfahrt, Thomas Beyer. Warum er eine Kinder-Grundsicherung fordert
Herr Prof. Beyer, Sie sind Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, kurz AWO, in Bayern. Wie viele Kinder in Bayern sind arm?
Prof. Thomas Beyer: Nach Angaben des aktuellen Sozialberichts der Staatsregierung sind in Bayern zwölf Prozent der Kinder unter 15 Jahren armutsgefährdet. Jenseits der Statistik: Im wirtschaftlich florierenden Freistaat leben über 120 000 Kinder in sogenannten Bedarfsgemeinschaften des Arbeitslosengeldes II, sind also auf Hartz IV angewiesen.
Steigt die Zahl der armen Kinder?
Beyer: Sie unterliegt seit Jahren nur leichten Schwankungen. Und darin sehe ich das große Problem, das ist das Erschütternde für mich: Kinderarmut verfestigt sich in Bayern.
Woran liegt das?
Beyer: Der lang anhaltende wirtschaftliche Aufschwung, der an sich wirklich ein Grund zur Freude ist, geht leider an vielen Familien im Freistaat vorbei. So haben wir zum Beispiel eine hohe Zahl an Langzeitarbeitslosen. Dieses Problem löst sich trotz der wirtschaftlich hervorragenden Lage nicht. Besonders drastisch ist die Lage von Alleinerziehenden. Etwa 40 Prozent der Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden sind armutsgefährdet. Und in über 80 Prozent der Fälle sind es Mütter, die für ihre Kinder allein die Verantwortung tragen. Das heißt, wir müssen die Chancen für die Erwerbstätigkeit von Frauen deutlich verbessern.
Was fordern Sie konkret, damit sich die Situation verbessert?
Beyer: Die Berufstätigkeit vieler alleinerziehender Mütter scheitert noch immer an der Kinderbetreuung. In Bayern hat sich hier nach Jahren des Stillstands zuletzt zwar sehr viel getan. Doch vor Ort fehlen immer noch viel zu oft Krippenplätze. Hinzu kommt: Der Arbeitsmarkt fordert hochflexible Arbeitskräfte – sowohl was die Arbeitszeiten als auch was die Kurzfristigkeit der Arbeitseinsätze angeht. Demgegenüber sind viele Angebote der Kinderbetreuung viel zu starr. Viele alleinerziehende Frauen arbeiten nur in Minijobs oder in Teilzeit. Und dies wiederum zeigt, wie essenziell das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit ist. Beyer: Jetzt muss diese Forderung aber endlich realisiert werden. Denn wir müssen sehen, dass die Arbeitssituation der Eltern immer direkte Auswirkungen auf die Kinder hat. Verbessert sich die Arbeitssituation der Eltern, verbessert sich die Situation der Kinder. Daher ist Familienpolitik auch eine bessere Arbeitsmarktpolitik.
Woran zeigt sich Kinderarmut?
Beyer: Oft fühlen sich diese Kinder von klein auf ausgeschlossen. Sie haben in vielen Fällen schlechtere Übertrittchancen auf höhere Schulen, haben oft sogar erhöhte gesundheitliche Risiken. Ihre angespannte finanzielle Lage merken viele von ihnen auch in der Freizeitgestaltung. Dort haben sie weniger Möglichkeiten als Gleichaltrige, können etwa bei Ausflügen nicht mitfahren. Zu beobachten ist auch immer wieder, dass diese Kinder keine Geburtstage feiern, weil sie fürchten müssen, wenn sie selbst eingeladen werden, keine Geschenke mitbringen zu können. Diese Kinder machen sehr früh eine Ausgrenzungserfahrung und spüren, ich kann nicht so teilhaben an meinem Umfeld wie andere.
Gefühle, die auch viele Senioren kennen. Altersarmut ist in Bayern ebenfalls ein Problem. Warum thematisiert die AWO auf ihrer Sozialkonferenz am Freitag in Stadtbergen bei Augsburg speziell Kinderarmut?
Beyer: Altersarmut ist in Bayern ein großes Problem, das stimmt. Sie gilt es ebenso zu bekämpfen. Beides ist eine Frage der Gerechtigkeit. Kinderarmut birgt aber noch eine andere Brisanz: Wer in Armut aufwächst, trägt fürs ganze Leben einen Rucksack mit sich. Seine Entwicklungsund Zukunftschancen sind teils massiv verringert. Damit verschärfen sich die Gefahren einer Spaltung der Gesellschaft. Das wiederum bringt große Gefahren für die Demokratie.
Welche Hilfe gibt es?
Beyer: Konkret fordern wir als Wohlfahrtsverbände seit Jahren eine deutliche Erhöhung der Grundsicherungssätze, also von Hartz IV. Ich schlage darüber hinaus ein Modell vor, dass die AWO vertritt: die sogenannte Kindergrundsicherung. Es sieht vor, dass jedem Kind ein Betrag zu zahlen ist, der sein Existenzminimum absichert.
Also eine neue Form des Kindergelds?
Beyer: Ja, eine kindbezogene Leistung. Denn jetzt haben wir eine absurde Situation: Bei denen, die am wenigsten haben, wird das Kindergeld auf die Sozialleistung angerechnet. Die Menschen, die richtig viel Geld haben, wählen den steuerlichen Freibetrag und erhalten mehr als die Mittelschicht über das Kindergeld. Das führt dazu, dass der Staat Kinder und Familien unterschiedlich fördert und darüber hinaus die Kinder am wenigsten unterstützt, die es am nötigsten haben. Das muss aufhören. Die Kindergrundsicherung wäre ein Betrag, der für jedes Kind in diesem Land bezahlt wird und der mit dem Haushaltseinkommen versteuert wird. Diejenigen, die eh nur das Existenzminimum haben, erhalten es steuerfrei.
„Diese Kinder machen sehr früh eine Ausgrenzungserfahrung.“ Prof. Thomas Beyer