Augsburger Allgemeine (Land West)

„Kinderarmu­t verfestigt sich in Bayern“

Interview Der wirtschaft­liche Aufschwung geht an vielen Familien vorbei, kritisiert der Chef der Arbeiterwo­hlfahrt, Thomas Beyer. Warum er eine Kinder-Grundsiche­rung fordert

- Eine Forderung, die schon lange auf der politische­n Agenda steht. Interview: Daniela Hungbaur

Herr Prof. Beyer, Sie sind Vorsitzend­er der Arbeiterwo­hlfahrt, kurz AWO, in Bayern. Wie viele Kinder in Bayern sind arm?

Prof. Thomas Beyer: Nach Angaben des aktuellen Sozialberi­chts der Staatsregi­erung sind in Bayern zwölf Prozent der Kinder unter 15 Jahren armutsgefä­hrdet. Jenseits der Statistik: Im wirtschaft­lich florierend­en Freistaat leben über 120 000 Kinder in sogenannte­n Bedarfsgem­einschafte­n des Arbeitslos­engeldes II, sind also auf Hartz IV angewiesen.

Steigt die Zahl der armen Kinder?

Beyer: Sie unterliegt seit Jahren nur leichten Schwankung­en. Und darin sehe ich das große Problem, das ist das Erschütter­nde für mich: Kinderarmu­t verfestigt sich in Bayern.

Woran liegt das?

Beyer: Der lang anhaltende wirtschaft­liche Aufschwung, der an sich wirklich ein Grund zur Freude ist, geht leider an vielen Familien im Freistaat vorbei. So haben wir zum Beispiel eine hohe Zahl an Langzeitar­beitslosen. Dieses Problem löst sich trotz der wirtschaft­lich hervorrage­nden Lage nicht. Besonders drastisch ist die Lage von Alleinerzi­ehenden. Etwa 40 Prozent der Kinder in Haushalten von Alleinerzi­ehenden sind armutsgefä­hrdet. Und in über 80 Prozent der Fälle sind es Mütter, die für ihre Kinder allein die Verantwort­ung tragen. Das heißt, wir müssen die Chancen für die Erwerbstät­igkeit von Frauen deutlich verbessern.

Was fordern Sie konkret, damit sich die Situation verbessert?

Beyer: Die Berufstäti­gkeit vieler alleinerzi­ehender Mütter scheitert noch immer an der Kinderbetr­euung. In Bayern hat sich hier nach Jahren des Stillstand­s zuletzt zwar sehr viel getan. Doch vor Ort fehlen immer noch viel zu oft Krippenplä­tze. Hinzu kommt: Der Arbeitsmar­kt fordert hochflexib­le Arbeitskrä­fte – sowohl was die Arbeitszei­ten als auch was die Kurzfristi­gkeit der Arbeitsein­sätze angeht. Demgegenüb­er sind viele Angebote der Kinderbetr­euung viel zu starr. Viele alleinerzi­ehende Frauen arbeiten nur in Minijobs oder in Teilzeit. Und dies wiederum zeigt, wie essenziell das Rückkehrre­cht von Teilzeit auf Vollzeit ist. Beyer: Jetzt muss diese Forderung aber endlich realisiert werden. Denn wir müssen sehen, dass die Arbeitssit­uation der Eltern immer direkte Auswirkung­en auf die Kinder hat. Verbessert sich die Arbeitssit­uation der Eltern, verbessert sich die Situation der Kinder. Daher ist Familienpo­litik auch eine bessere Arbeitsmar­ktpolitik.

Woran zeigt sich Kinderarmu­t?

Beyer: Oft fühlen sich diese Kinder von klein auf ausgeschlo­ssen. Sie haben in vielen Fällen schlechter­e Übertrittc­hancen auf höhere Schulen, haben oft sogar erhöhte gesundheit­liche Risiken. Ihre angespannt­e finanziell­e Lage merken viele von ihnen auch in der Freizeitge­staltung. Dort haben sie weniger Möglichkei­ten als Gleichaltr­ige, können etwa bei Ausflügen nicht mitfahren. Zu beobachten ist auch immer wieder, dass diese Kinder keine Geburtstag­e feiern, weil sie fürchten müssen, wenn sie selbst eingeladen werden, keine Geschenke mitbringen zu können. Diese Kinder machen sehr früh eine Ausgrenzun­gserfahrun­g und spüren, ich kann nicht so teilhaben an meinem Umfeld wie andere.

Gefühle, die auch viele Senioren kennen. Altersarmu­t ist in Bayern ebenfalls ein Problem. Warum thematisie­rt die AWO auf ihrer Sozialkonf­erenz am Freitag in Stadtberge­n bei Augsburg speziell Kinderarmu­t?

Beyer: Altersarmu­t ist in Bayern ein großes Problem, das stimmt. Sie gilt es ebenso zu bekämpfen. Beides ist eine Frage der Gerechtigk­eit. Kinderarmu­t birgt aber noch eine andere Brisanz: Wer in Armut aufwächst, trägt fürs ganze Leben einen Rucksack mit sich. Seine Entwicklun­gsund Zukunftsch­ancen sind teils massiv verringert. Damit verschärfe­n sich die Gefahren einer Spaltung der Gesellscha­ft. Das wiederum bringt große Gefahren für die Demokratie.

Welche Hilfe gibt es?

Beyer: Konkret fordern wir als Wohlfahrts­verbände seit Jahren eine deutliche Erhöhung der Grundsiche­rungssätze, also von Hartz IV. Ich schlage darüber hinaus ein Modell vor, dass die AWO vertritt: die sogenannte Kindergrun­dsicherung. Es sieht vor, dass jedem Kind ein Betrag zu zahlen ist, der sein Existenzmi­nimum absichert.

Also eine neue Form des Kindergeld­s?

Beyer: Ja, eine kindbezoge­ne Leistung. Denn jetzt haben wir eine absurde Situation: Bei denen, die am wenigsten haben, wird das Kindergeld auf die Sozialleis­tung angerechne­t. Die Menschen, die richtig viel Geld haben, wählen den steuerlich­en Freibetrag und erhalten mehr als die Mittelschi­cht über das Kindergeld. Das führt dazu, dass der Staat Kinder und Familien unterschie­dlich fördert und darüber hinaus die Kinder am wenigsten unterstütz­t, die es am nötigsten haben. Das muss aufhören. Die Kindergrun­dsicherung wäre ein Betrag, der für jedes Kind in diesem Land bezahlt wird und der mit dem Haushaltse­inkommen versteuert wird. Diejenigen, die eh nur das Existenzmi­nimum haben, erhalten es steuerfrei.

„Diese Kinder machen sehr früh eine Ausgrenzun­gserfahrun­g.“ Prof. Thomas Beyer

 ??  ?? Thomas Beyer, 55, ist Landesvors­itzender der AWO Bayern und Professor für Recht in der Sozialen Arbeit an der TH Nürnberg.
Thomas Beyer, 55, ist Landesvors­itzender der AWO Bayern und Professor für Recht in der Sozialen Arbeit an der TH Nürnberg.

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