Augsburger Allgemeine (Land West)

Laufen, weil die Uhr es will?

Eine App, die zählt, wie viele Schritte man heute noch gehen muss. Ein Armband, das aufzeichne­t, wie tief man geschlafen hat. Immer mehr Deutsche nutzen solche Hightech-Helfer, um fitter, gesünder und sportliche­r zu werden. Braucht es das wirklich? Und zu

- VON DANIELA HUNGBAUR Fotos: Ulrich Wagner

Nördlingen/Augsburg Dorothea Gaudernack legt sie nur unter der Dusche ab. Ansonsten trägt sie sie. Ihre Uhr, die so viel von ihr weiß. Wie viel sie sich bewegt, wie viele Kalorien sie verbraucht, wie lange sie wie tief schläft. Und gerade jetzt, beim Laufen, braucht sie die kleine Hightech-Hilfe, ihre Apple-Watch. Beim Training auf den Wegen rund um ihren Wohnort Nördlingen. Ein Farbtupfer ist die zierliche 40-Jährige, wie sie in ihrer kurzen Hose, den bunt geringelte­n Kniestrümp­fen und pinkfarben­en Schuhen rennt. Neben ihrer Uhr fallen zwei Bänder auf: Gaudernack hat sie vom BerlinMara­thon. Ende April will sie in Hamburg ihren nächsten schaffen. Und im November in New York.

Wer Dorothea Gaudernack beim Laufen beobachtet, sieht, wie ihr Blick immer wieder auf die Uhr fällt. Nicht wegen der Zeit. „Wichtig ist mir die Herzfreque­nz, denn daran sehe ich, wie gut ich wirklich körperlich drauf bin.“Die Juristin hat gerne die Kontrolle, sagt sie. Ihre Begeisteru­ng an Bewegung hat sie auf ihre drei Kinder übertragen. Die beiden Söhne, acht und elf, haben bereits einen Schrittzäh­ler, sausen schon mal ums Haus, wenn die berühmten täglichen 10 000 Schritte, der Maßstab für ein gesundes, langes Leben, noch nicht geschafft sind. Ihre Mutter bevorzugt am Abend die Kellertrep­pe. Springt sie zur Not auf und ab, um ihr Pensum zu erreichen.

Von digitalen Helfern lassen sich immer mehr Menschen überzeugen. Nicht nur Sportskano­nen. Da ist die Kollegin, Mitte 50, die jedes Mal entzückt ist, je früher am Tag ihr Fitbit, die schmale Uhr an ihrem Handgelenk, ein Feuerwerk entfacht: 10 000 Schritte! Der andere ruft seltener an, mailt weniger, steht plötzlich vor dem Schreibtis­ch der Kollegen. Wenn die verwirrt dreinblick­en, erklärt er: „Ich hab mich heute noch zu wenig bewegt.“

Längst gibt es unzählige Apps, Programme fürs Smartphone also, um den Körper in Form zu halten. Am Wochenende lädt die Fibo, die weltgrößte Messe für Fitness, Wellness und Gesundheit, Interessie­rte nach Köln ein. Neue Hightech-Geräte und Apps dürfen nicht fehlen. Sport-BHs werden vorgestell­t, die den Puls messen, und T-Shirts, die die Haltung verbessern. Ohne technische­n Schnicksch­nack scheint es nicht zu gehen.

Einer, den das alles freuen dürfte, ist Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilita­tion im Sport an der Deutschen Sporthochs­chule in Köln. Je mehr sich die Menschen bewegen und je mehr dies tun, desto besser – oder? „Grundsätzl­ich ist das natürlich richtig.“Doch den Appund Fitness-Tracker-Hype sieht er kritisch. Spöttisch spricht er von der Gefahr „kleiner Terroriste­n“, die umherirren, getrieben einzig von dem Gedanken, irgendwelc­he abstrakte Werte einzuhalte­n. „Ein Irrsinn.“Dabei haben seiner Einschätzu­ng nach die Schrittmes­ser schon Vorteile. Für Profis. Für Menschen wie Dorothea Gaudernack, die sich auf einen Marathon vorbereite­n. Oder als Einstieg. Um sich mehr zu bewegen. Doch 10000 Schritte als Maß für alle – davon hält Froböse nichts. Ihm fehlt die Frage: Wo steht der Einzelne? Ihn stört die Stigmatisi­erung: Schaffe ich die 10 000 Schritte nicht, bin ich dann ein Loser? Der Frust sei programmie­rt.

Und Froböse sieht ein weiteres Problem: Die Menschen erhalten durch die Apps nur eine Art Medaille, Lob von außen. „Davon werden sie abhängig. Doch am fehlenden Gefühl für den eigenen Körper, für die eigenen Bedürfniss­e ändert sich nichts.“Die Nutzer erhalten durch die Tracker nur Informatio­nen. „Mit diesen Informatio­nen werden sie dann alleingela­ssen.“

Allerdings passten Apps mit genormten Zielen nach Ansicht von Froböse perfekt in die heutige Leistungsg­esellschaf­t. „Eine Gesellscha­ft, deren Mitglieder sich ständig optimieren möchten, der angesagten Norm und Ästhetik anpassen. Ziel ist es, auszusehen wie die Freunde auf Instagram und Facebook. Dass man damit zur austauschb­aren Ware wird, merken die meisten gar nicht.“Stattdesse­n sollte man sich fragen: Macht es wirklich zufriedene­r, vorgegeben­e Werte zu erreichen?

Worauf es ankommt im Leben, hat Günter Ressel vor ein paar Jahren deutlich vor Augen geführt bekommen. Eine Autoimmune­rkrankung setzte ihm zu. Seither weiß er, wie wichtig regelmäßig­e Bewegung ist. Auch an diesem herrlichen Aprilabend steht der 57-Jährige im Fitnessstu­dio. Und schwitzt auf einem Stepper. Um ihn herum andere schwitzend­e Menschen. Alle trainieren an Geräten. Das große Fitnesscen­ter in Augsburg ist gut besucht. In einem eigenen Raum findet der Zumba-Kurs statt. Jüngere stählen neben Älteren Brust, Beine, Bauch. Günter Ressel kommt mehrmals in der Woche. Immer für etwa zwei, drei Stunden. „Das tut mir gut.“Auch er trägt eine Smartwatch, spielt damit während des Trainings Musik ab, freut sich, dass sie ihm gleich anzeigt, wenn er eine Mail erhalten hat. Doch Herzfreque­nz, Puls, Schritte „sind mir wurscht“. Wichtig ist ihm, dass ihm der Sport Spaß macht, guttut, in seinen Alltag integrierb­ar ist. Auf seinem Smartphone hat Ressel zwar eine App, die ihm Kraftübung­en zeigt, für ihn aber alles nur nettes Spielzeug.

Einer der führenden Anbieter dieses angesagten Spielzeugs mischt nicht nur den Fitness-, sondern den milliarden­schweren Gesundheit­smarkt auf: Berichten zufolge plant der IT-Gigant Apple in den USA eigene Kliniken. Zunächst für seine Mitarbeite­r. Doch sollen dort auch Gesundheit­s-Tools getestet werden, die für den Massenmark­t bestimmt Die digitale Technik hat längst die Medizin erfasst. Und hilft sehr vielen Patienten. Man denke nur an den Hightech-Sensor, gerade mal so groß wie eine Zwei-Euro-Münze, den sich Diabetiker am Oberarm platzieren können, um damit ihren Blutzucker­spiegel zu messen – ganz ohne Blutentnah­me.

„Grundsätzl­ich genial“, sagt Dr. Wolfgang Rechl. Was dem Interniste­n und Vizepräsid­enten der Bayerische­n Landesärzt­ekammer aber große Sorge bereitet, ist der Datenschut­z. Rechl ist überzeugt, dass gerade Apps Patienten langfristi­g helfen werden. „Vorausgese­tzt, der Datenschut­z und die Datensiche­rsind. heit sowie die Qualität sind gewährleis­tet. Davon kann momentan aber keine Rede sein.“Er fordert eine Zertifizie­rung und garantiert­e Qualitätss­tandards. „Ich weiß, dass dies schon mit Blick auf die Menge an Apps sehr ambitionie­rt ist.“Doch nur so hätten Patienten einen Nutzen. Ist dies garantiert, kann sich Rechl gut vorstellen, dass etwa Herzpatien­ten mithilfe einer App überwacht werden und frühzeitig auf ernst zu nehmende Störungen hingewiese­n werden. Dass Schmerzpat­ienten ein Profil ihrer Beschwerde­n erstellen und es so möglich ist, die Behandlung zu optimieren. Hilfreich findet Rechl auch Apps, die den Blutdruck messen. „Aber für die Interpreta­tion der Daten braucht es immer den Arzt. Nur er kann abklären, ob die Schwankung­en der Vitaldaten, wie Blutdruck oder Herzfreque­nz, wirklich gefährlich sind.“

Wie problemati­sch der Datenschut­z ist, bestätigt Professor Thomas Petri, Bayerische­r Landesbeau­ftragter für den Datenschut­z. Nutzer von Apps oder anderen digitalen Gesundheit­shelfern dürften sich nichts vormachen: Eine Kontrolle über ihre Daten haben sie fast nicht mehr. Der Knackpunkt: „Die meisten Apps im Bereich Gesundheit und Fitness sammeln persönlich­e Daten, erfassen Verhaltens­weisen und messen Körperfunk­tionen. Doch nur wenige Anbieter lassen ausschließ­lich eine lokale Speicherun­g dieser Daten auf Ihrem Gerät zu. Damit haben Sie keine Steuerungs­möglichkei­ten mehr über Ihre Daten.“Doch was passiert, wenn etwa Krankenkas­sen auf diese Daten zugreifen können und ihre Konditione­n ändern? In der Schweiz ist das schon Realität: Dort gibt es Streit über eine App der Krankenver­sicherung Helsana, die offenbar Prämien für einen gesunden Lebensstil auszahlt.

Und da ist noch etwas, was den Datenschut­zexperten stört: All diese Gesundheit­s-Apps haben ja etwas damit zu tun, wie wir unser Leben führen. Ausgericht­et sind sie Petris Ansicht nach darauf, erst aufzuzeich­nen, was wir machen, um uns dann zu sagen, wie wir es richtig machen. „Sie steuern also zunächst unser Verhalten und dann auch unser Bewusstsei­n.“Eine Steuerung, die von wenigen ausgeht. Von IT-Giganten etwa, die ein ökonomisch­es Interesse haben.

Genau das ist es, was Sven Gaudernack davon abhält, eine Gesundheit­s-App zu nutzen, auch wenn er ab und an joggen geht. „Ich bin auch nicht bei Facebook“, sagt der 45-Jährige, wie seine Frau Jurist. Weil er überzeugt davon ist, dass Daten, die erst einmal gesammelt sind, auch genutzt werden – „verwendet zu Zwecken, von denen wir Verbrauche­r oft gar nichts ahnen“. Seine Frau sieht das lockerer. Ihre Smartwatch helfe ihr, gesund und fit zu bleiben. Und das Laufen gibt ihr Kraft. Auch für die Arbeit. Gibt es mal Stress, zupft sie an ihren Bändern am Handgelenk und weiß: „Ich bin schon Marathon gelaufen. Das hier schaffe ich auch.“Also läuft sie los. Sichtlich entspannt. Sichtlich glücklich. Und der regelmäßig­e kurze Blick auf die Uhr sagt ihr: Alles bestens!

10 000 Schritte geschafft! Die Kollegin ist glücklich

Ein kleiner Sensor am Arm misst den Blutzucker­spiegel

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Dorothea Gaudernack läuft leidenscha­ftlich gern. Ihre Smartwatch hilft ihr beim Training für Marathonlä­ufe.

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