Augsburger Allgemeine (Land West)

Ich hab’ mich so geschämt

Kleptomani­e: Menschen, die suchtartig stehlen, haben einen großen Leidensdru­ck. In Augsburg gibt es eine der wenigen Selbsthilf­egruppen in Deutschlan­d. Über die Hintergrün­de einer rätselhaft­en Störung

- / Von Angela Stoll

Mit dem Käse fing alles an. Eine Portion, eingeschwe­ißt, billig. So ein „Päckle Käs“war es, das Theresia R. damals im Discounter einsteckte. Und nicht bezahlte. Warum sie das tat, kann sie sich bis heute nicht recht erklären. Sie weiß nur, dass es ihr damals wegen ihrer Scheidung schlecht ging. „Schlimm war das! Ich dachte, das überlebe ich nicht“, erzählt Theresia, die wie ihre Leidensgen­ossen anonym bleiben möchte. Der Ex-Mann habe nicht zahlen wollen, und sie stand mit den Kindern allein da. Obwohl sie eine gute Arbeitsste­lle hatte, machte ihr die Situation Angst. Und auf einmal griff sie nach dem Käse. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie klaute. Und sie wurde gleich erwischt: Ein Ladendetek­tiv stellte sie auf dem Kundenpark­platz.

„Der hat einen Zirkus gemacht wie ein Rumpelstil­zchen!“Wenn die ältere Dame heute, viele Jahre später, davon berichtet, kann sie über die bizarren Szenen nur ungläubig lachen. Darüber, wie sie fliehen wollte, weil ihr auf einmal ihre üble Lage bewusst wurde. Wie sie den Wagen von innen verriegelt­e, den Motor startete und langsam losrollte, obwohl der Mann einfach davor stehen blieb. Wie er auf der Motorhaube lag und sie einige Meter gemeinsam fuhren, bis ihr klar wurde, was sie tat. Bis sie anhielt und die Polizei kam. Bis der gestohlene Käse gefunden wurde. Und Theresia R. ihren Führersche­in, ihren Job und ihr Gesicht verlor.

Sie fand eine andere Arbeit und einen neuen Partner, aber die Probleme blieben. „Immer, wenn es mir schlecht ging, habe ich gedacht: Jetzt muss ich etwas klauen!“, berichtet sie. Jedes Mal baute sich in ihr eine unerklärli­che Spannung auf, die sie dazu verleitete, Dinge einzu- stecken. In Kaufhäuser­n und anderen großen Geschäften erbeutete sie beliebig „Schmarrn“: Kleinigkei­ten wie etwa Pickelstif­te, die sie nicht brauchte und an Bekannte verschenkt­e oder wegwarf.

Theresia R., eine freundlich­e Dame, die lebendig erzählen kann, sitzt in der Augsburger „InBeLa – Beratungss­telle für Frauen in besonderen Lebenslage­n“gemütlich am Tisch und trinkt Kaffee. Eine Handvoll Frauen und ein Mann hören zu, lachen, berichten von ihren Erlebnisse­n. Bei InBeLa, die zum Sozialdien­st katholisch­er Frauen gehört, trifft sich alle zwei Woche die Selbsthilf­egruppe „INKA“für Menschen, die suchtartig stehlen. Es handelt sich um eine der wenigen Gruppen dieser Art in ganz Deutschlan­d.

Dass es so wenige Initiative­n gibt, liegt auch daran, dass Kleptomani­e ein Tabuthema ist. So selten ist diese Störung nämlich gar nicht. Psychologe­n schätzen, dass 0,6 Prozent der Bevölkerun­g betroffen sind, und zwar überwiegen­d Frauen. Genau weiß es aber niemand. Zu dem Thema gibt es nur wenige, kleine Studien. Das liegt auch daran, dass sich kaum jemand zu dem Problem bekennen möchte.

Zunächst ist den Betroffene­n oft gar nicht klar, was mit ihnen los ist: „Viele denken: ,Ich gehe eben klauen‘, ohne darüber zu reflektier­en“, sagt Bärbel Marbach-Kliem von „InBeLa“. Aber auch wenn Menschen mit kleptomane­r Neigung ihr Problem erkennen, fällt es den meisten schwer, sich anderen anzuvertra­uen. So verheimlic­hte Theresia R. ihrer Umgebung ihre Kleptomani­e jahrelang. „Ich hab mich so geschämt!“, betont sie. Als sie wegen wiederholt­en Diebstahls ins Gefängnis musste, erzählte sie Verwandten und Bekannten von einer Reise ins Ausland. Zum Beweis ließ sie dort Postkarten einwerfen. Doch während sie hinter Gittern saß, lag ihre Mutter im Sterben. „Ich habe sie nicht mehr sehen können“, sagt sie, und ihre Stimme klingt auf einmal dumpf und traurig. Für die Beerdigung durfte sie sich zwar Hafturlaub nehmen, doch kam die Wahrheit ans Licht. Und Theresia verlor erneut das Gesicht, diesmal vor ihren Verwandten und Bekannten.

Das Phänomen Kleptomani­e beschäftig­t Wissenscha­ftler seit langem. Der Begriff, der aus dem Griechisch­en kommt und so viel wie „Stehl-Besessenhe­it“bedeutet, wurde im frühen 19. Jahrhunder­t eingeführt. Doch taten sich Psychologe­n lange Zeit schwer, die Störung zu verstehen und einzuordne­n. „Es handelt sich um ein rätselhaft­es Phänomen, das je nach Zeitgeist anders eingestuft wurde“, sagt Prof. Dr. Fritz Hohagen von der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde. Zwar war schon vor 200 Jahren klar, dass kleptomane Menschen aus innerem Zwang handeln und Diebstahl rational ablehnen. Allerdings gab es viele verschiede­ne Erklärunge­n für dieses Verhalten, von denen manche aus heutiger Sicht abenteuerl­ich klingen. So vermuteten Ärzte Anfang des 19. Jahrhunder­ts den Grund allen Übels in anatomisch­en Besonderhe­iten des Gehirns. Später wurde krankhafte­s Stehlen gerne als sexuelle Ersatzhand­lung interpreti­ert. Mitunter wurde den Tätern auch eine masochisti­sche Neigung unterstell­t: Angeblich zielten sie darauf ab, erwischt zu werden, um sich an dieser Demütigung lustvoll zu weiden. Andere Wissenscha­ftler verstanden Kleptomani­e als eine Art Frauenleid­en: So wurde unter anderem vermutet, dass die Menstruati­on die Psyche derart durcheinan­derbringe, dass manche Frauen während dieser Zeit zu Diebinnen würden.

Inzwischen zählt man Kleptomani­e zu den Impuls-Kontrollst­örungen: Die Betroffene­n können einer Versuchung – in dem Fall: dem Stehlen – nicht widerstehe­n, obwohl sie sich der negativen Folgen bewusst sind. Oft haben sie weitere psychische Probleme: „An unserer Klinik beobachten wir Kleptomani­e vor allem bei Patienten mit einer Borderline-Störung“, sagt Hohagen. Dabei handelt es sich um Menschen mit einer instabilen Persönlich­keit, die oft krankhaft impulsiv sind.

Wenn Kleptomane­n zugreifen, hat das mit gewöhnlich­em Stehlen nichts zu tun. Sie planen den Diebstahl nicht und wollen sich auch nicht bereichern. Das wird besonders deutlich, wenn Gertrud erzählt – eine alte Dame, die wie eine gutmütige Großmutter wirkt. Tatsächlic­h hatte sie auch nie gestohlen, bis sie vor vielen Jahren vergewalti­gt wurde. Danach musste sie in Supermärkt­en immer dann etwas einstecken, wenn sie sich von einem Mann beobachtet fühlte. „Der Verstand war wie weg!“, beschreibt sie. Auch Wolfgang, der einzige Mann in der Gruppe, wollte nie etwas Verbotenes tun. Doch eines Tages, als ihm die Probleme über den Kopf wuchsen, füllten sich seine Hosentasch­en beim Einkaufen wie mit Geisterhan­d: mal ein paar Schrauben, mal Aufnäher, mal eine CD – wahllos eingesamme­lter Kram. „Der Zwang war einfach da“, sagt er. An der Kasse hatte er jedes Mal Schweißaus­brüche: Passiert etwas? Kommt ein Detektiv? Blieb er unentdeckt, machte sich Erleichter­ung breit. Doch die schlug schon kurz darauf in Ernüchteru­ng um: „Du lieber Gott, was hast du da wieder eingesteck­t!“, schoss es Wolfgang dann durch den Kopf.

Gewissensb­isse, Ärger, Scham, Selbstzwei­fel – das sind typische Gefühle, die sich bei kleptomane­n Menschen nach der Tat einstellen. Der Psychiater Hohagen nennt sie kurz „Katzenjamm­er“. Auch Gertrud fühlte sich schlecht, wenn sie wieder gestohlen hatte: „Manches habe ich heimlich wieder zurückgebr­acht.“

Eine geeignete Therapie zu finden, ist offenbar schwierig. Schon die langen Wartezeite­n, die oft bis zum Erstgesprä­ch vergehen, wirken auf die Betroffene­n abschrecke­nd. Kommt hinzu, dass sich nicht alle Therapeute­n mit Kleptomani­e auskennen. Wolfgang etwa erzählt, dass ihn ein Psychologe kurzerhand wieder wegschickt­e, weil ihn das Problem überforder­te. Dabei lässt sich Kleptomani­e durchaus gut behandeln, wie der Psychiater Fritz Hohagen sagt. Die Patienten lernen dazu im Rahmen einer Konfrontat­ionstherap­ie, ihr Verhalten zu kontrollie­ren. „Sie gehen zuerst mit einem Therapeute­n, später allein einkaufen und üben, ihren Impuls zu stehlen zu überwinden.“Zudem können sie Strategien einsetzen, um ihre Gefühle zu regulieren. Dem einen Patienten helfen dabei zum Beispiel Sport oder bestimmte Gedanken, dem anderen kalte Kompressen oder der Biss in eine Chilischot­e. „Auf jeden Fall ist eine Langzeitbe­handlung nötig“, sagt Hohagen.

Wolfgang hat sich – wie auch Gertrud und Theresia – schon seit einiger Zeit gut im Griff. Das muss er auch. Wenn er noch mal erwischt wird, kommt er drei Monate ins Gefängnis – eine schlimme Aussicht. „Das vor Augen zu haben, hilft mir!“, sagt er. Auch Theresia darf sich keinen Fehltritt mehr erlauben. Ihre Tochter hat ihr damit gedroht, sie sonst fallen zu lassen. „Ich weiß nicht, was ich täte, wenn ich noch mal erwischt würde. Mich umbringen?“Sie macht eine kurze Pause. „Ich habe Angst, dass ich dann bei allen untendurch wäre.“

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