Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Verwandlun­g

Plötzlich großer Bruder – oder wie Kinder über Nacht um Jahre älter werden können. Ein Bericht von der Wickelfron­t

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

N eulich ist schon wieder ein kleines Wunder geschehen. Wir haben ein Kind bekommen. Schon das ist ja eine wunderbare Sache, wie jeder weiß, der das schon einmal miterleben durfte. Wie da nach so langem Warten und unter heftigen Schmerzen plötzlich ein neuer Mensch auf der Welt ist. Je näher man sich die Sache besieht, desto rätselhaft­er und unfassbare­r wird sie. Aber davon soll hier gar nicht die Rede sein. Das Ding ist nämlich: Wir haben schon ein Kind. Darum haben uns viele der Gefühle und Erlebnisse, die man auf diesem Weg hat, zwar immer noch berührt, aber nicht mehr so überrascht. Trotzdem waren wir nicht gefasst, auf das, was wir dann nach der Geburt noch im Krankenhau­s erlebt haben.

Mit gut zwei Jahren ist unser Erster natürlich kein Baby mehr. Er spricht immer vollständi­gere Sätze, flitzt mit seinem Laufrad durch die Wohnung und isst mit Löffel und Gabel. Darum waren wir natürlich gespannt, wie er reagieren würde, wenn das Baby, von dem so lange die Rede war, plötzlich da ist. Und dann noch dazu die Mama im Krankenhau­s bleibt und nicht mit nach Hause kommt.

Was soll ich sagen: Es lief an und für sich ganz gut. Na gut, beim ersten Besuch sah er nicht so wahnsinnig glücklich aus. Aber er hat sich die Kleine zumindest angeschaut und sie sogar gestreiche­lt. Dann hat er sich aber hauptsächl­ich mit dem kleinen Spielzeugb­agger beschäftig­t, den wir ihm geschenkt haben. Keine Krise, keine Tränen, sogar beim nach Hause gehen, war er völlig zahm und entspannt.

Am nächsten Tag kam er dann mit Oma und Opa. Aber was war das? Dasselbe Kind, unser Kleiner, ist über Nacht riesig groß gewor- den! Seine Hände – groß wie Untertelle­r; der Kopf – rund und mächtig. Alles an ihm war plötzlich viel größer als zuvor. Keine Ahnung, wie er überhaupt noch in seine Kleider gepasst hat! Dafür war an dem Baby alles so unfassbar klein. Die Windel zu wechseln, war unglaublic­h schwierig, obwohl ich das doch schon tausendmal gemacht hatte. Jetzt waren sogar die Klebestrei­fen zu lang, sodass man sie übereinand­er machen musste. Und die Bodys erst! Wahnsinn. Nach ein paar Tagen sind wir dann alle vier nach Hause gegangen. Und jeden Tag seither habe ich das Gefühl, fast vergessen zu haben, wie es war, ein Baby zu haben. Dafür ist der große Junge, den wir seitdem auch haben, plötzlich immer mal wieder der Meinung, doch noch ein Baby zu sein: Schon nach wenigen Tagen beherrscht­e er die Kunst, das Wimmern der Kleinen so täuschend echt nachzumach­en, dass die Eltern, als sie nachsehen kamen, ganz überrascht vor einem schlafende­n Baby und einem grinsenden Kind standen…

Matthias Zimmermann,

38, ist gerade zum zweiten Mal Vater geworden und fühlt sich morgens oft um Jahre älter.

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Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle. Nächste Woche: „Radlerlebe­n“– Ansichten und Geschichte­n eines Radfahrers.

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