Augsburger Allgemeine (Land West)
Wo heute der Esstisch steht, war früher das Schaltpult
Eine Familie aus Obergriesbach wohnt direkt am Bahngleis. Nicht nur das ist ungewöhnlich / Serie (1)
Obergriesbach Anton Rast und Dorothee Minssen leben mit ihren Kindern gern ungewöhnlich. Weil die Gegend moorig ist, sind an jedem Eck ihres Hauses Betonpfeiler eingelassen. „Ein bisschen wie in Venedig“, findet Dorothee Minssen. Das Gebäude steht allerdings nicht in Italien, sondern in der Nähe von Augsburg. Die größere Besonderheit des Hauses ist aber eine andere. Direkt am Wohnzimmer fahren zu jeder halben Stunde Züge vorbei. Vom Esstisch aus wirken diese zum Greifen nah. Die Familie wohnt im ehemaligen Bahnhofsgebäude in Obergriesbach. „Wo heute unser Esstisch steht, war früher das Schaltpult des Stellwerks“, erzählt der freischaffende Musiker und Gymnasiallehrer Anton Rast. Wo heute gekocht wird, wurden früher die Fahrkarten verkauft. Der ehemalige Wartebereich wurde von den neuen Besitzern eingemauert. Nicht aus architektonischen Gründen, sondern um Missverständnisse zu vermeiden, die auf Dauer etwas anstrengend wurden. „Bevor es eine Eingrenzung gab, kamen die Leute zu uns rein und fragten nach Wechselgeld, weil sie dachten, das sei hier noch ein offizieller Bahnhof“, erinnert sich Dorothee Minssen.
Das ehemalige Empfangsgebäude in Obergriesbach ist nicht die einzige Immobilie aus dem früheren Bestand der Deutschen Bahn, die nach dem Kauf durch Privatleute als Eigenheim dient. Doch während die Familie in Obergriesbach gern davon berichtet, wollen andere Besitzer ehemaliger Bahnhöfe oft anonym bleiben. Unter anderem, weil sie Fototouristen befürchten. Anton Rast und Dorothee Minssen dagegen freuen sich, umso bekannter ihre Immobilie wird. Zumindest das Obergeschoss. Denn die ehemalige Unterkunft des Bahnhofsvorstehers im ersten Stock vermieten die beiden als Ferienwohnung. „Am Anfang habe ich mich über das Interesse gewundert, weil ich mich fragte: Wer macht denn Urlaub in Obergriesbach?“, gesteht Dorothee Minssen. „Ich finde es interessant, dass Menschen aus so vielen Nationalitäten zu Gast sind“, so die Managerin in einem Technologiekonzern. Man würde meinen, dass es vor allem Bahn-Fans sind, die sich an einem Ort wie diesem einnisten wollen, doch sind die Mieter eher Kurzurlauber oder Menschen auf der Durchreise. „Auf deren Sightseeing-Liste stehen in der Regel München, Augsburg, Neuschwanstein und Legoland“, berichtet Anton Rast.
Für sich entdeckt hat die Familie das Gebäude zufällig in den Neunziger Jahren. Weil sie an einem sonnigen Tag am Bahnsteig Obergriesbach ausstiegen und das vergatterte Haus ihre Neugier weckte. Bereits 1994 hatten die beiden bei der Bahn Interesse an dem brachliegenden Bahnhof bekundet. Die Antwort dauerte über zehn Jahre. „Damals fühlte sich niemand so richtig zuständig, durch die Privatisierung der Bahn wurde das Unternehmen zerschlagen in verschiedene Geschäftsbereiche“, erinnert sich Anton Rast. 2006 konnten die beiden anfangen zu renovieren. Letzten Endes stellte sich das Unterfangen als „Entkernung einer Ruine“heraus. Daran erinnert heute nichts mehr: Das 1874 gebaute Gebäude sieht so gemütlich aus wie ein moderner Neubau. Gemütlich bleibt es sogar, wenn Züge vorbei fahren. „Laut wird es nur, wenn Fahranfänger bremsen“, sagt Rast. Mieten kann man die Ferienwohnung über www.airbnb.de.