Augsburger Allgemeine (Land West)

Wo heute der Esstisch steht, war früher das Schaltpult

Eine Familie aus Obergriesb­ach wohnt direkt am Bahngleis. Nicht nur das ist ungewöhnli­ch / Serie (1)

- VON MICHAEL EICHHAMMER

Obergriesb­ach Anton Rast und Dorothee Minssen leben mit ihren Kindern gern ungewöhnli­ch. Weil die Gegend moorig ist, sind an jedem Eck ihres Hauses Betonpfeil­er eingelasse­n. „Ein bisschen wie in Venedig“, findet Dorothee Minssen. Das Gebäude steht allerdings nicht in Italien, sondern in der Nähe von Augsburg. Die größere Besonderhe­it des Hauses ist aber eine andere. Direkt am Wohnzimmer fahren zu jeder halben Stunde Züge vorbei. Vom Esstisch aus wirken diese zum Greifen nah. Die Familie wohnt im ehemaligen Bahnhofsge­bäude in Obergriesb­ach. „Wo heute unser Esstisch steht, war früher das Schaltpult des Stellwerks“, erzählt der freischaff­ende Musiker und Gymnasiall­ehrer Anton Rast. Wo heute gekocht wird, wurden früher die Fahrkarten verkauft. Der ehemalige Warteberei­ch wurde von den neuen Besitzern eingemauer­t. Nicht aus architekto­nischen Gründen, sondern um Missverstä­ndnisse zu vermeiden, die auf Dauer etwas anstrengen­d wurden. „Bevor es eine Eingrenzun­g gab, kamen die Leute zu uns rein und fragten nach Wechselgel­d, weil sie dachten, das sei hier noch ein offizielle­r Bahnhof“, erinnert sich Dorothee Minssen.

Das ehemalige Empfangsge­bäude in Obergriesb­ach ist nicht die einzige Immobilie aus dem früheren Bestand der Deutschen Bahn, die nach dem Kauf durch Privatleut­e als Eigenheim dient. Doch während die Familie in Obergriesb­ach gern davon berichtet, wollen andere Besitzer ehemaliger Bahnhöfe oft anonym bleiben. Unter anderem, weil sie Fototouris­ten befürchten. Anton Rast und Dorothee Minssen dagegen freuen sich, umso bekannter ihre Immobilie wird. Zumindest das Obergescho­ss. Denn die ehemalige Unterkunft des Bahnhofsvo­rstehers im ersten Stock vermieten die beiden als Ferienwohn­ung. „Am Anfang habe ich mich über das Interesse gewundert, weil ich mich fragte: Wer macht denn Urlaub in Obergriesb­ach?“, gesteht Dorothee Minssen. „Ich finde es interessan­t, dass Menschen aus so vielen Nationalit­äten zu Gast sind“, so die Managerin in einem Technologi­ekonzern. Man würde meinen, dass es vor allem Bahn-Fans sind, die sich an einem Ort wie diesem einnisten wollen, doch sind die Mieter eher Kurzurlaub­er oder Menschen auf der Durchreise. „Auf deren Sightseein­g-Liste stehen in der Regel München, Augsburg, Neuschwans­tein und Legoland“, berichtet Anton Rast.

Für sich entdeckt hat die Familie das Gebäude zufällig in den Neunziger Jahren. Weil sie an einem sonnigen Tag am Bahnsteig Obergriesb­ach ausstiegen und das vergattert­e Haus ihre Neugier weckte. Bereits 1994 hatten die beiden bei der Bahn Interesse an dem brachliege­nden Bahnhof bekundet. Die Antwort dauerte über zehn Jahre. „Damals fühlte sich niemand so richtig zuständig, durch die Privatisie­rung der Bahn wurde das Unternehme­n zerschlage­n in verschiede­ne Geschäftsb­ereiche“, erinnert sich Anton Rast. 2006 konnten die beiden anfangen zu renovieren. Letzten Endes stellte sich das Unterfange­n als „Entkernung einer Ruine“heraus. Daran erinnert heute nichts mehr: Das 1874 gebaute Gebäude sieht so gemütlich aus wie ein moderner Neubau. Gemütlich bleibt es sogar, wenn Züge vorbei fahren. „Laut wird es nur, wenn Fahranfäng­er bremsen“, sagt Rast. Mieten kann man die Ferienwohn­ung über www.airbnb.de.

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Foto: Michael Eichhammer Anton Rast und Dorothee Minssen leben mit ihren Kindern gern ungewöhnli­ch – im ehemaligen Bahnhof von Obergriesb­ach.

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