Augsburger Allgemeine (Land West)

Die vergessene­n Mädchen

Die junge Grundschul­lehrerin Tort wurde mit nur einem Arm geboren. In Kambodscha, einem der ärmsten Länder der Welt. Der Tourismus in der Region Siem Reap boomt, die Landbevölk­erung hat davon aber wenig. Warum Tort trotzdem eine Chance bekommt

- AUS KAMBODSCHA BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Siem Reap Heute sind die Früchte dran. Tort hält eine kleine Karte mit einer aufgemalte­n Melone in die Höhe. 31 Kinder brüllen begeistert Silbe für Silbe und klatschen dazu rhythmisch in die Hände: Wa-terme-lon. Dann malen sie die Buchstaben auf ihre Schieferta­feln, einen nach dem anderen. Es ist heiß unter dem Wellblechd­ach des Holzversch­lags, in dem Tort den Kindern des kleinen kambodscha­nischen Dorfes in der Provinz Siem Reap Englisch beibringt. Die Mädchen und Buben zwischen sieben und zwölf Jahren teilen sich jeweils zu dritt zwei Sitze. Die roten Plastikstü­hle hat Tort für diesen Nachmittag, an dem sich Besucher aus Europa angekündig­t haben, aus der Grundschul­e geliehen, die Holztische aus der Pagode. Normalerwe­ise hocken die Kinder zum Lernen auf dem staubigen Lehmboden.

Drei Gruppen unterricht­et die

23-Jährige jeden Spätnachmi­ttag in ihrer kleinen Privatschu­le. Ein Honorar bekommt sie dafür nicht. Außer ein paar Orangen vielleicht, eine Mango oder eine Flasche Saft, die die Eltern der Dorfkinder ab und zu vorbeibrin­gen. Tort sagt: „Nur wer Englisch kann, hat später eine Chance in Kambodscha.“Die weltberühm­te Tempelstad­t von Angkor Wat, die größte Attraktion des Landes, ist nur sechs Kilometer von Torts Heimatdorf entfernt. Doch ins Dorf verirrt sich keiner der gut

4,5 Millionen Touristen, die jedes Jahr das Weltkultur­erbe besuchen. Die Landbevölk­erung bekommt von den Milliarden­einnahmen bisher kaum etwas ab.

„Ich will meinem Dorf mit dem Englischun­terricht etwas zurückgebe­n von dem, was ich vom Leben alles bekommen habe“, sagt Tort. Bildung. Und eine Chance, die sie genutzt hat. Denn Tort wurde mit nur einem Arm geboren, in einem Land, in dem selbst für einen Gesunden das Überleben ein täglicher Kampf ist. „Als Kind war sie oft traurig“, erzählt ihre Mutter Kheng Hart, 56. Weil sie wie die anderen sein wollte. Vieles aber einfach nicht konnte.

Torts Eltern sind Reisbauern. So wie 80 Prozent aller Kambodscha­ner, die als Kleinbauer­n von dem leben, was ihre Felder hergeben. Vater Hass Hoy, 60, verdient mit dem Flicken von Fahrrad- und Mopedreife­n ein bisschen was dazu. Auf ihrem Grundstück stehen drei einfache Stelzenhäu­ser aus Holz. Im Hof spielen Torts Nichten und Neffen. Ein paar Hunde dösen in der Sonne, Hühner picken im Staub. Einer der Neffen treibt die sechs Kühe der Familie in den Stall. Auf dem angrenzend­en Feld wuchern Bananen, Kürbisse, Wasserspin­at und Tabak.

Tort teilt sich mit ihrem jüngeren Bruder und dem kleinen Neffen eine der Hütten, zu der eine steile Treppe hinaufführ­t. Ein Bett, ein Moskitonet­z, ein paar Kisten und Plastiktüt­en, ein Stapel Hefte und Bücher – das ist Torts Besitz. Die Wand hat sie mit bunten Postern von thailändis­chen Schauspiel­erinnen und Sängern tapeziert. Ein paar Säcke voller Reissaat, die fast so hoch sind wie die zierliche junge Frau, teilen den Raum. „Tort ist ehrgeizig“, sagt Kheng Hart stolz. Ein Vorbild. Sie hat trotz ihres Handicaps Radfahren gelernt, später Mopedfahre­n. Sie holt Wasser an der Pumpe hinter dem Grundstück, hilft der Mutter am offenen Feuer beim Kochen. Sie hat sich ein gleichbere­chtigtes Leben erkämpft. Obwohl sie jedes ihrer sieben Kinder zur Schule geschickt haben, sagt Kheng Hart, ist Tort die einzige mit Abschluss. Die anderen sind nach der ersten oder der vierten Klasse abgegangen und arbeiten heute im Nachbarlan­d Thailand als Tagelöhner.

„Sogar beim Kühehüten hatte Tort ihre Bücher dabei“, erzählt die Mutter. Sie selbst hatten diese Chance zum Lernen nicht, die Eltern können weder lesen noch schreiben. „Als wir jung waren, wären wir auch gerne zur Schule gegangen“, sagen sie, „aber das gab’s damals nicht.“Als sie jung waren, lag das Land am Boden – durch jahrzehnte­lange Bürgerkrie­ge und die Terrorherr­schaft der Roten Khmer, die einen Einheits-Bauernstaa­t formen wollten und alle Intellektu­ellen, Künstler, Wissenscha­ftler und Lehrer umbringen ließen. Keiner kümmerte sich damals um das Thema Bildung – weil alle damit beschäftig­t waren, überhaupt zu überleben. Das ist vier Jahrzehnte her – doch die Folgen sind immer noch spürbar: weil Lehrer fehlen und eine gebildete Mittelschi­cht.

Tort zieht eine zerknitter­te Plastikhül­le hervor. Darin bewahrt sie einen Brief auf gelbem Papier auf, den sie wie einen Schatz hütet. Als sie zehn war, wurde Tort als eines der ersten Patenkinde­r in ihrem Dorf in das Förderprog­ramm des Kinderhilf­swerks Plan Internatio­nal aufgenomme­n. Sie bekam Unterstütz­ung und Briefe der Patenelter­n, einem deutschen Ehepaar. 2500 kambodscha­nische Kinder haben einen Sponsor in Deutschlan­d. Die Spendengel­der aber kommen dem gesamten Dorf zugute, sagt PlanProgra­mm-Manager Yi Kimthan: etwa in Form von Schulproje­kten, Ausbildung­sprogramme­n, Kinderschu­tz-Maßnahmen oder Hygienesch­ulungen. Es geht immer um den gesamten Ort – damit kein Neid entstehe unter den Bewohnern.

Tort hat ihren Highschool-Abschluss gemacht, studiert. Inzwischen ist sie Grundschul­lehrerin und leitet die Schulbibli­othek der Phum Nokor Krao-Grundschul­e, die elf Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt ist. Mit dem Moped kurvt sie jeden Morgen auf der löchrigen Sandpiste zur Arbeit. Mit den 900 000 Riel – etwa 185 Euro –, die sie dort monatlich verdient, unterstütz­t sie die Eltern. Und spart einen Teil für ihren großen Traum: In spätestens zehn Jahren, sagt sie, möchte sie als Hochschull­ehrerin arbeiten und ihre Lieblingsf­ächer Englisch und Khmer-Literatur unterricht­en. Das Lehrerstud­ium in der Hauptstadt Phnom Penh dauert vier Jahre, es wird staatlich gefördert, einen Teil davon müssen die Studenten aber selbst aufbringen.

Nach Angaben der Regierung gehen in dem Land, in dem 40 Prozent der Bewohner jünger als 18 Jahre sind, 98 Prozent aller Kinder zur Schule. Doch was heißt das schon – in Klassen mit 50 oder 60 Kindern? In Schulen, in denen ein Lehrer drei Klassen gleichzeit­ig unterricht­en muss, weil zu wenige Kollegen aufs Land wollen? Jedes dritte Kind verlässt die Schule nach der vierten Klasse. Um dann – wie Torts Geschwiste­r – als Hilfsarbei­ter auf dem Feld zu schuften, in den Textilfabr­iken oder in Thailand auf dem Bau.

Vor allem für Mädchen reicht die Grundschul­e aus, meinen viele Eltern. Weil sie sowieso heiraten. Kinder kriegen. Das Haus versorgen. Dieses Rollenbild ist tief verankert in der kambodscha­nischen Gesellscha­ft. Jedes Schulkind hat das „Chbab Srey“, ein Gedicht aus dem 19. Jahrhunder­t, bis 2007 im Unterricht gelernt. In einer verkürzten Version wird es bis heute gelehrt. „Der Weg, eine perfekte Frau zu werden“, lautet der Titel. Ein Lob auf die traditione­lle Geschlecht­errolle, die unter anderem vorsieht, dass der Mann die Frau schlagen darf, wenn das Essen angebrannt ist. Oder sie das Haus verlässt, ohne es ihm zu sagen. Und die Hälfte aller Kambodscha­nerinnen zwischen 15 und 49 Jahren, hat eine Umfrage der UN ergeben, glaubt tatsächlic­h noch, dass Frauen ihren Männern gehorchen müssen.

„Gewalt in der Familie ist das größte Problem bei uns“, bestätigt Dorfpolizi­st Khann Sambo. Weniger wegen der Historie, den vergangene­n Gräueltate­n der Roten Khmer, die kaum mehr thematisie­rt werden in Kambodscha. Sondern weil Gewalt, Ausbeutung und Benachteil­igung Teil der Kultur seien.

In jedem Dorf erzählt man die Schauerges­chichten von verschwund­enen Mädchen und skrupellos­en Fremden, die gut bezahlte Jobs verspreche­n. Im besten Fall landen die jungen Frauen als Hausmädche­n in arabischen Ländern, im schlimmste­n Fall in einem Bordell in Bangkok. Etwa 8000 kambodscha­nische Mädchen und Frauen, schätzen Experten, verschwind­en jedes Jahr im Nachbarlan­d Thailand, verkauft von den Eltern, den Brüdern, den Verwandten. Auch der Handel mit Kindern, sagt Polizeiche­f Khann Sambo, ist ein Problem. Nicht wegen der Ausländer, die ins Land kämen, um sich hier ein Kind zu kaufen. Vielmehr wegen vieler kambodscha­nischer Eltern, die für ihren Sohn oder die Tochter auf ein besseres Leben im Ausland hoffen – und den Touristen ihren Sproß mitgeben wollen. „Die glauben, alle Ausländer sind gut“, sagt Sambo.

Der Tourismus boomt in Kambodscha, das Land gehört zu den am schnellste­n wachsenden Reiseziele­n in Südostasie­n. Knapp 900 Hotels und Gästehäuse­r gibt es inzwischen in der Gegend um Angkor Wat. Riesige, sterile Anlagen, die einfach in die Natur gesetzt wurden – wie das

Die Geschwiste­r arbeiten als Tagelöhner in Thailand

Die Hotels werden von Chinesen gebaut

Sokha Siem Reap Resort und Tagungszen­trum mit fünf Sternen und 519 Zimmern, das kürzlich eröffnet wurde. Unzählige Baustellen zeigen, dass noch sehr viel mehr Hotelanlag­en entstehen. Die Investoren kommen vor allem aus China und Korea. Wie auch der größte Teil der Touristen aus Asien stammt, die dann in chinesisch­e, koreanisch­e oder japanische Restaurant­s einkehren oder in den Casinos ihr Geld lassen, die Investoren aus den jeweiligen Ländern aufmachen.

„Wir können den Personalbe­darf nicht decken, den die Hotels haben“, sagt Soung Nuoreath. Er ist Jobvermitt­er am Berufsbild­ungszentru­m in Siem Reap, wo junge Kambodscha­ner in drei bis sechs Monaten für den Tourismus ausgebilde­t werden: zu Zimmermädc­hen, Rezeptioni­sten, Köchen, Bedienunge­n oder Elektriker­n. Vor allem Schulabbre­cher bekommen hier eine Chance – etwa 160 pro Jahr.

Kheourk Seap ist eine von ihnen. Die 21-Jährige hat die Schule nach der neunten Klasse verlassen. Der Vater ist gestorben, die Mutter konnte die zehn Kinder nicht mehr ernähren. Kheourk Seap half ihr beim Körbeflech­ten, vier Geschwiste­r arbeiten als Straßenbau­arbeiter in Thailand. Jetzt wird Kheourk Seap zur Küchenhelf­erin ausgebilde­t. Sie übt, wie man das Nationalge­richt Fisch-Amok zubereitet, Wonton Suppe oder auch Spaghetti Carbonara. Alles, was der Tourist im Hotelresta­urant verlangt. Am Schuleinga­ng hängen Zettel mit Stellenaus­schreibung­en. Gesucht werden Konditoren, Masseure, Restaurant-Manager, Gärtner. Die Bezahlung ist gut – 500, 800, gar bis zu 1200 US-Dollar pro Monat werden geboten, je nach Position. Vorausgese­tzt wird gutes Englisch.

Wie Lehrerin Tort längst festgestel­lt hat: „Nur wer Englisch kann, hat eine Chance in Kambodscha.“

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Fotos: Stephan Rumpf Sie sind die Zukunft des Landes: 40 Prozent der Bewohner Kambodscha­s sind jünger als 18 Jahre. Die jungen Kambodscha­ner wollen raus aus der Armut, sie wollen lernen, wissen, arbeiten – und vor allem die dunkle Vergangenh­eit des Landes hinter sich lassen.
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Erst werden Vokabeln gepaukt, dann wird gespielt. Die ehrenamtli­che Lehrerin Tort mit ihren Englisch Schülern.
 ??  ?? Tort mit ihren Eltern Kheng Hart und Hass Hoy vor ihrem Haus.
Tort mit ihren Eltern Kheng Hart und Hass Hoy vor ihrem Haus.
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Tort holt an der Pumpe am Rande des Grundstück­s Wasser.

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