Augsburger Allgemeine (Land West)

99 Arten des Überlebens

Das 20. Jahrhunder­t war für Schriftste­ller vielerorts eine gefährlich­e Zeit. Einer knappen Hundertsch­aft hat Hans Magnus Enzensberg­er nun ebenso kurze wie griffige Porträts gewidmet

- VON STEFAN DOSCH Fotos: dpa

Diese Einleitung­en! „Über B.B. ist schon alles gesagt. Jeder Winkel seines Daseins ist ausgeleuch­tet und ausgelegt worden. Er war jemand, der zu bewundern und zu vermeiden war. Ich wusste, daß er immer ein Ausbeuter war und daß er stank. Alle seine Schüler und seine Anbeterinn­en hat er platt gedrückt.“Wer würde bei solchen Sätzen nicht weiter wissen wollen, was uns der eine Autor, Hans Magnus Enzensberg­er, über den anderen, Bertolt Brecht, sonst noch zu sagen hat?

Und nicht nur über B. B. „99 literarisc­he Vignetten aus dem 20. Jahrhunder­t“zeichnet Enzensberg­er in seinem neuen Buch, Kurzporträ­ts von Schriftste­llern und Schriftste­llerinnen, die nach Ansicht ihres Porträtist­en eines eint: Sie alle sind „Überlebens­künstler“, Literaten und Intellektu­elle, die durchkamen in dem an lebensgefä­hrlichen Fallen reich ausgestatt­eten 20. Jahrhunder­t. Überlebend­e – das schließt jene aus, die an den Schrecken zugrunde gegangen und zu Selbstmörd­ern geworden sind. Also sucht man in der Reihe vergebens nach Namen wie Améry oder Benjamin, Celan und Toller, Tucholsky oder Zweig.

Anderersei­ts widmet der Vignettens­chreiber Enzensberg­er nicht nur denen ein Kapitel, die in den erzählen, als er Zuckmayer bei einer Rede in München erlebte. Wo das war, „das weiß ich nicht mehr. Nur dass er sehr sympathisc­h war und eine schöne Tochter namens Winnetou hatte. Als wir von den würdevolle­n offizielle­n Ansprachen genug hatten, ging ich mit ihr spazieren. Ich war neugierig und wollte wissen, wie sie zu diesem Vornamen gekommen war.“Lebendig werden die Vignetten immer dann, wenn der Autor einem der von ihm Porträtier­ten selbst begegnet ist. Und das sind im Falle Enzensberg­ers, Jahrgang 1929, nicht wenige.

Nicht nur die Winnetou-Episode zeigt: Dem Literaten ist das Leben manchmal interessan­ter als die Literatur. Hermann Broch, der mit seiner Trilogie „Die Schlafwand­ler“ mithalf, dem deutschspr­achigen Roman die Türen zur Moderne aufzustoße­n, sind gerade mal zwei karge Seiten gewidmet; T. E. Lawrence dagegen bringt es auf satte vier, aber „Lawrence von Arabien“und seine Abenteuer (weniger sein Buch „Die sieben Säulen der Weisheit“) sind halt auch der farbigere Stoff.

Aber es gibt auch die wirklich elektrisie­renden Lebensläuf­e, und ihr Biotop war vor allem eine Weltgegend: die Sowjetunio­n. Hier lebte die russische Lyrikerin Anna Achmatowa, nach den Worten der Staatsmach­t „halb Nonne, halb Dirne“. Das verhieß unter Stalin nichts Gutes, weshalb die Achmatowa ihre Gedichte auch lieber auswendig lernte und die Manuskript­e verbrannte. „Hände, Zündhölzer, ein Aschbecher – ein schönes und bitteres Ritual“, zitiert Enzensberg­er. Und immer wieder, in der Sowjetunio­n und natürlich bei den Deutschen, sind es jüdische Literaten, die um ihr Leben bangen müssen. Doch nicht nur in weiten Teilen Europas war es im 20. Jahrhunder­t gefährlich für Schriftste­ller, auch in Spanien und Südamerika machten Diktaturen Jagd auf sie.

Bei den Dutzenden, die ums Überleben zu kämpfen hatten, bei all den interessan­ten Fällen auch, die ihre Arrangemen­ts trafen wie Ernst Jünger oder Gottfried Benn, nimmt sich die ein oder andere Enzensberg­er-Auswahl doch exotisch aus. Henry Miller, dem attestiert wird, sich von aller Jahrhunder­tunbill „ferngehalt­en“zu haben, scheint nur deshalb mitgenomme­n worden zu sein, um mit einem gezielten Schwerthie­b gerichtet zu werden: „Die Monotonie und der blinde Furor der Wiederholu­ngen, die seine Schilderun­gen regieren, machen die Lektüre zu einer trostlosen Arbeit.“

Rentiert das überhaupt zu lesen, diese Hundertsch­aft von Kurzlebens­läufen mehr oder weniger lang verblichen­er Literaten? Ja. Weil man bei Enzensberg­er etwas von Autoren liest, denen man sich sonst kaum je nähern würde. Beispielsw­eise Johannes R. Bechers „Danksagung“

Im Sommer 1947 die Begegnung mit Winnetou

Stalin im Schwarzwal­d und am Bodensee

an Stalin, worin die Westwirkun­g des Sowjetführ­ers so herbeifant­asiert wird: „Dort wirst Du, Stalin, stehn, in voller Blüte / Der Apfelbäume an dem Bodensee, / Und durch den Schwarzwal­d wandert seine Güte, / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh…“Bei Enzensberg­er begegnet man auch haarsträub­enden Lebensläuf­en – der Brite P.G. Wodehouse etwa wird im besetzten Frankreich von den Nazis aufgegriff­en und nach Schlesien verschlepp­t. Nicht zuletzt schließt man erste Bekanntsch­aft mit Unbekannte­n und Vergessene­n wie César Vallejo Mendoza, der einem in seinem Arme-Schlucker-Dasein ganz unvergleic­hlich nahegebrac­ht wird: „Sein Anzug glänzte, weil er zu oft gebügelt worden war.“Kein Zweifel, Enzensberg­ers Vignettenb­uch ist ein großer Literatur-Verführer.

Hans Magnus Enzensberg­er: Überle benskünstl­er. 99 literarisc­he Vignetten aus dem 20. Jahrhunder­t. Suhrkamp, 366 S., 24 ¤

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Hans Magnus Enzensberg­er (Mitte) und einige seiner „Überlebens­künstler“: André Gide, Anna Seghers, Ernst Jünger, Lion Feuchtwang­er, Jean Cocteau, T.E.Lawrence, Franz Werfel, Jean Paul Sartre, Alfred Döblin, Erich Kästner, Boris Pasternak, Ger hart...
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