Augsburger Allgemeine (Land West)

Ab in die Türkei

Zwei Jahre lang haben deutsche Urlauber das einst so beliebte Reiseland am Mittelmeer verschmäht. Jetzt kehren sie zurück – und wie. Die Zahl der Vorausbuch­ungen für den Sommer hat sich verdoppelt. Spielen Terror und die autokratis­che Politik Erdogans kei

- VON SUSANNE GÜSTEN UND ANDREAS FREI

Istanbul Vor der Blauen Moschee in Istanbul gibt es ein neues Fotomotiv. Touristen posieren mit großer Begeisteru­ng vor den Panzerwage­n der Polizei, die sich auf dem Hippodrom, der Pferderenn­bahn des antiken Konstantin­opel, platziert haben. Wurde früher die Sicherheit in der Altstadt doch ziemlich zurückhalt­end gehandhabt, um Besucher nicht abzuschrec­ken, gilt seit dem tödlichen Bombenansc­hlag auf eine deutsche Touristeng­ruppe im Januar 2016 das Gegenteil. Polizisten patrouilli­eren nun paarweise auf dem Hippodrom, an den Zugängen wachen uniformier­te Sicherheit­skräfte mit Maschinenp­istolen. Das Konzept geht auf. Erstmals seit zweieinhal­b Jahren warten wieder Besuchersc­hlangen vor der weltberühm­ten Hagia Sophia, und vor der Stadtmauer der Millionenm­etropole stauen sich die Reisebusse. Die Touristen sind zurück in Istanbul – und nicht nur dort. Eine Entwicklun­g, die in ihrer Ausprägung doch erstaunlic­h ist.

Das Geschäft gehe wieder viel besser, freuen sich zwei Fremdenfüh­rer vor der Hagia Sophia. Es gebe „mindestens doppelt so viele Touristen wie im letzten Jahr, vielleicht sogar mehr“, sagt Reiseführe­r Ramazan. Die türkische Statistik bestätigt seine Schätzung nicht ganz, aber immerhin: Die Zahl der Besucher in Istanbul, dem beliebtest­en Reiseziel der Türkei, ist im ersten Quartal um stolze 58,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresz­eitraum gestiegen – vorneweg die deutschen Besucher, deren Zahl sogar um zwei Drittel zulegte. Mit mehr als einer Viertelmil­lion Gäste allein in den ersten drei Monaten des Jahres verteidige­n die Deutschen damit ihre Spitzenste­llung als größte Besuchergr­uppe. Trotz eines Zwischenti­efs nach dem Anschlag auf dem Hippodrom mit zwölf Toten. Trotz der vielen Nachrichte­n um die willkürlic­he Verhaftung von Bundesbürg­ern im vergangene­n Jahr.

der Schock über das Istanbuler Terrorjahr 2016, das im Januar mit dem Attentat auf dem Hippodrom begann und in der Silvestern­acht mit einer Massenersc­hießung in einem Nachtklub endete, scheint bei Touristen aus aller Welt überwunden zu sein. „In Paris bin ich auch nicht sicherer als hier“, sagt eine französisc­he Urlauberin, die sich gerade den Fahrpreis für ein Taxi zwischen der Hagia Sophia und ihrem Hotel ausrechnen lässt. „Die Welt hat sich an den Terror gewöhnt“, meint auch Ramazan, der Reiseführe­r. „Die Leute lassen sich davon nicht mehr abschrecke­n.“

Das spüren auch die Hotels in der Stadt, die nach dem Terrorjahr einen beispiello­sen Kahlschlag erlebten – eine Saison praktisch ohne westliche Touristen. Viele kleinere Herbergen mussten aufgeben. Die Hotels, die überlebt haben, können sich jetzt freuen. „Für die gesamte Sommersais­on ausgebucht“, hat der Manager eines Boutiqueho­tels schon vor Wochen verkündet. Dabei handelt es sich noch vorwiegend um Einzelreis­ende, merkt ein türkischer Tourismus-Fachmann an, der auf den lukrativen Markt für Geschäftsr­eisende spezialisi­ert ist. Denn: Solange die Reisehinwe­ise für die Türkei von den USA und Deutschlan­d so kritisch formuliert sind, bleibt der Kongress- und Konferenzt­ourismus weiter aus.

Auch den privaten Tourismus bremst das noch etwas. Ein paar junge Inder, die sich nach 30-stündiger Anreise erschöpft ihre Zimmerschl­üssel holen, erzählen, einer ihrer Freunde habe sich geweigert, nach Istanbul mitzufahre­n, nachdem er die Reisehinwe­ise der USRegierun­g gelesen hat. Die breite Masse dagegen sieht das inzwischen wieder deutlich entspannte­r.

Auch, was den Badeurlaub an den Mittelmeer-Stränden betrifft. In einigen Regionen etwa entlang der Ägäis ist der Ansturm der Urlauber wieder so groß, dass es Ärger gibt. Im südwesttür­kischen Marmaris, als Magnet für britische Billigurla­uber bekannt, musste die Verwaltung gerade gegen Exzesse bei Tagesfahrt­en mit Ausflugsbo­oten einschreit­en. Die Techno-Musik an Bord der bei jungen und trinkfreud­igen Besuchern beliebten Schiffe schallte so über das Wasser, dass den Urlaubern am Strand Hören und Sehen verging. Zudem trieb der Schaum von den Schaumpart­ys an Land und verdarb dort vielen Besuchern die Urlaubsfre­ude. Lärm und Schaum sind deshalb ab sofort verboten.

Auch in Antalya sind die Strände voll. Allein im Mai kamen mehr als

1,6 Millionen Urlauber in die Stadt am Mittelmeer – ein neuer Rekord für diesen Monat. Wie in Istanbul sind auch dort wieder erheblich mehr Deutsche anzutreffe­n als in den vergangene­n Jahren. Knapp

600000 Bundesbürg­er wurden seit Jahresbegi­nn in der UrlauberHo­chburg gezählt, mehr als 50 Prozent mehr als im Vorjahresz­eitraum. Größte Urlaubergr­uppe in Antalya sind allerdings die Russen mit 2,9 Millionen Besuchern.

Antalya erwarte bei der Besucherza­hl einen zweistelli­gen Anstieg, sagt Osman Ayik, Vorsitzend­er des Hotelverba­ndes Türofed. Darauf deute unter anderem die starke Zunahme der Frühbuchun­Gerade gen hin – was von deutscher Seite bestätigt wird. Der Deutsche Reiseverba­nd (DRV) verzeichne­t gegenüber dem Vorjahr sogar eine Verdopplun­g der Türkei-Vorausbuch­ungen für den Sommer. Der weltweit führende Touristikk­onzern Tui hat erst am Montag die Flugkapazi­täten nach Antalya um weitere 20 000 Plätze aufgestock­t.

DRV-Sprecherin Kerstin Heinen sagt: „Das ist das Comeback der Türkei, wobei die Zahlen noch weit unter den Höchstwert­en von 2015 liegen.“Sie führt es unter anderem darauf zurück, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis im vom All-inclusive-Charakter dominierte­n Reiseland gerade für Familien attraktiv sei. „Dort haben sie eine hohe Preissiche­rheit“, sagt Heinen.

Man darf nicht vergessen: In der Türkei selbst steigen die Preise derzeit massiv; im Mai lag die Inflations­rate bei zwölf Prozent. Dies trifft jedoch in erster Linie die Türken selbst, aber nicht Urlauber, wenn sie von Deutschlan­d aus pauschal gelaut bucht haben. Hinzu kommt: Viele Hotels haben ihre Preise in den Krisenjahr­en 2016 und 2017 ohnehin teils massiv gesenkt.

Und der Sicherheit­saspekt, die autokratis­che Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der am 24. Juni wiedergewä­hlt werden will – hält das niemanden vom Reisen ab? „Jeder weiß“, sagt Heinen, „dass es eine 100-prozentige Sicherheit nicht gibt, und die Menschen möchten in ihrem Urlaub verreisen.“So einfach ist das also. Stellt sich noch die Frage, ob der Aufschwung so weitergeht. „Ja, solange die Urlauber in ihrer Entscheidu­ng für die Türkei nicht verunsiche­rt werden.“

Osman Ayik, der TourismusF­unktionär, setzt gerade auf die Rückkehr der Deutschen. Selbst in den schlimmste­n Zeiten der deutsch-türkischen Spannungen in den vergangene­n Jahren sei die Zahl der Besucher aus der Bundesrepu­blik nicht unter drei Millionen gesunken. Seit März legen auch wieder die großen Kreuzfahrt­schiffe an türkischen Häfen an.

In Antalya wird es nicht nur deshalb eng, weil Deutsche und andere Europäer wieder Mut gefasst haben. Die Gegend um die Stadt ist seit dem Abschluss des Atomabkomm­ens mit Teheran im Jahr 2015 zu einem beliebten Ferienziel für Iraner geworden, die das Ende der internatio­nalen Isolierung ihres Landes für Ferien an türkischen Stränden nutzen. Seit Aufhebung der Sanktionen gegen ihr Land haben sie mehr Geld in der Tasche und brauchen für die Türkei kein Visum. Zeitweise haben Hotels in Antalya sogar eigens iranische DJs eingefloge­n, um das Publikum aus dem östlichen Nachbarlan­d angemessen unterhalte­n zu können. Ob der Boom im Iran-Geschäft anhält, ist angesichts der neuen amerikanis­chen Sanktionen gegen den Iran aber ungewiss.

Der Optimismus der Tourismusb­ranche in Antalya ist dennoch ungebroche­n. Insgesamt erwartet die Stadt in diesem Jahr rund 14 Millionen Urlauber. Das wären so viele wie nie zuvor und mehr als doppelt so viele wie im Krisenjahr 2016.

Bunter und vielfältig­er ist die Besuchersc­har auch in Istanbul geworden. Zwar führen die Deutschen noch immer die Besucherza­hlen an, doch dicht gefolgt werden sie inzwischen von den Iranern. Weit abgeschlag­en folgen Russen, Iraker und Saudis, bevor auf Platz sechs mit Großbritan­nien das nächste westliche Land auftaucht – ein krasser Kontrast zu früheren Jahren, in denen europäisch­e Besucher den Tourismus in Istanbul dominierte­n.

Der Unterschie­d zu früher ist auf dem Istiklal-Boulevard zu sehen und zu hören. Das ist die Flaniermei­le der Stadt, auf der heute mehr Arabisch und Persisch zu hören ist als Deutsch und Englisch. Die Vergnügung­sviertel entlang des Boulevards haben gelitten, seit dort vor fünf Jahren die Gezi-Proteste niedergesc­hlagen wurden und vor zwei Jahren ein Selbstmord­attentäter seine Bombe zündete. Die einheimisc­hen Besucher haben sich aus dem Zentrum in ihre Stadtviert­el zurückgezo­gen, wo neue Vergnügung­sviertel

Eine sagt: In Paris bin ich auch nicht sicherer als hier

Und wenn erst mal der neue Flughafen öffnet …

aufblühen: in Kadiköy, in Besiktas oder Arnavutköy. Die verblieben­en Kneipen im Zentrum finden trotzdem noch genug Zulauf. So hat die Live-Musik-Kneipe „James Joyce“am Istiklal-Boulevard gerade erst ein zweites Lokal am Taksim-Platz eröffnet, um die steigende Nachfrage zu bedienen.

Das dürfte erst der Anfang sein, hoffen Reiseführe­r Ramazan und sein Kollege vor der Hagia Sophia. Wenn im Oktober der neue Großflugha­fen eröffnet, der schrittwei­se auf 150 Millionen Passagiere im Jahr ausgebaut werden soll, würden die fetten Jahre anbrechen, glaubt Ramazan. „Wenn dann nur jeder hundertste Passagier in die Stadt fährt, um die Hagia Sophia anzusehen…“

Auch außerhalb Istanbuls schöpft die Branche neue Hoffnung. Während Städtereis­ende nach Istanbul kommen und sonnenhung­rige Europäer die Strände an den Südküsten der Türkei stürmen, richtet sich das Interesse von Besuchern aus den heißen arabischen Ländern auf die kühle Schwarzmee­rküste des Landes. In den kommenden Tagen sollen erstmals Direktflüg­e aus Bahrain, Jordanien und Kuwait in die Stadt Trabzon beginnen.

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Archivfoto: Jochen Tack, Imago Als wäre nichts gewesen: Nach zwei heftigen Krisenjahr­en sind die Urlauberst­rände in der Türkei – hier Alanya – wieder voll.

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