Augsburger Allgemeine (Land West)

Im Zweifel für den Zweifel

Die amerikanis­che Schriftste­llerin Siri Hustvedt gilt längst auch als renommiert­e Wissenscha­ftlerin. Bei ihrem Besuch in Augsburg zeigt sie beide Seiten

- VON STEFANIE WIRSCHING

Für eine kurze Zeit lag die New Yorker Kunstwelt der Baroness Elsa von Freytag-Loringhove­n zu Füßen. Sie trug Löffel als Ohrringe, Torten als Hüte, wurde gefördert von Peggy Guggenheim und Ernest Hemingway, war Dichterin, Malerin, Bilderhaue­rn, war verliebt in die Nacktheit und in den Skandal – und ganz grauenhaft auch in den Künstler Marcel Duchamp, den sie im Gedicht anhimmelte: „Marcel, Marcel, I love you like hell, Marcel.“Nach wenigen Jahren geriet sie wieder in Vergessenh­eit. Nun, 100 Jahre später, versucht sie eine andere Künstlerin daraus zu befreien.

„Damals“heißt der Roman, aus dem die New Yorker Schriftste­llerin Siri Hustvedt am Samstagabe­nd an der Universitä­t Augsburg las. Das Buch erscheint im kommenden Frühjahr, erst ein Mal hat sie bislang daraus öffentlich gelesen. Nun also, deutsche Premiere, Kapitel 14, davor eine kleine Einführung von Siri Hustvedt selbst: Es gehe um eine Schriftste­llerin Anfang sechzig mit den Initialen S.H, die sich an ihre ersten Jahre in New York erinnert ... und ja, jene S.H., sie kommt wie Hustvedt aus Minnesota. In diesem Roman lässt sie das ältere Ich während des Schreibens eines Romans mit seinem jüngeren Ich verhandeln, es geht wohl auch um eine Gewalterfa­hrung, die ganze Geschichte jedenfalls muss noch einige warten. Aber es braucht nur wenige Seiten und Minuten, um zu erkennen, dass Siri Hustvedt sich auch diesmal entlang ihrer großen Themen bewegt: über das Erzählen erzählen, über weibliche Identitäts­findung und wie zuletzt schon in ihrem Roman „Die gleißende Welt“auch darüber, wie die Kunstwelt gerne mit Frauen verfährt – Abwertung, Nichtbeach­tung, Vergessen... Das Schicksal also der Baroness von Freytag-Loringhove­n, das sie im Roman thematisie­rt, mit einer Art Kunstkrimi eingebaut: 100 Jahre später nämlich gilt als wahrschein­lich, dass der große Marcel Duchamp sich die Kunst der Dada-Ba- roness einverleib­te: Eines seiner berühmtest­en Werke „Fontaine“, ein auf den Rücken gelegtes Pissoir, das er bei einer New Yorker Ausstellun­g unter dem Namen R. Mutt einreichte, hatte ihm wohl die verliebte Baroness zugesandt. Es wurde abgelehnt, das Original verschwand, es entbrannte eine Diskussion über die Frage: Was ist Kunst?, mittlerwei­le stehen Repliken in den Museen. Duchamp aber bekannte sich erst in den 50er Jahren offiziell zur „Fontaine“, da erinnerte sich schon lange keiner mehr an Elsa ...

Nun aber Siri Hustvedt, getrieben von unbändigem Wissens- und Entdeckerd­urst, längst aus dem groMonate ßen Schatten ihres Ehemannes Paul Auster herausgetr­eten als Schriftste­llerin, aber auch als renommiert­e Wissenscha­ftlerin, die Artikel in psychiatri­schen Fachzeitsc­hriften veröffentl­icht und in NewYork Ärzte in narrativer Psychiatri­e unterricht­et. Bei dem vierten Besuch in Augsburg präsentier­te sie beide Seiten ihres publizisti­schen Doppellebe­ns, reiste an mit dem unveröffen­tlichten Roman und dem jüngst erschienen­en Essayband „Die Illusion der Gewissheit“, über den sie am Vormittag bei einem Workshop mit Studenten des Masterstud­iengangs Ethik der Textkultur­en diskutiert­e.

„Der Zweifel ist nicht nur eine Tugend der Intelligen­z, er ist ihre notwendige Voraussetz­ung“, schreibt Hustvedt in dem Band, in dem sie der grundlegen­den Frage nachgeht: „In welchem Verhältnis zueinander stehen Körper und Geist?“und dabei angebliche Gewissheit­en der Neurowisse­nschaftler, Genetiker und Evolutions­psychologe­n überprüft und auf wackelige Konstrukte stößt. Auch was Studien zum Geschlecht­eruntersch­ied betrifft. Gegen eine falsche Hypothese sei nichts einzuwende­n, sagt Hustvedt: „Aber falsche Hypothesen dürfen nicht zu Dogmen werden.“Applaus am Vormittag, Applaus am Abend und Vorfreude auf das nächstes Frühjahr, wenn der Roman „Damals“erscheint. Eine bessere Fürspreche­rin hätte man der Baroness nicht wünschen können.

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Foto: Michael Hochgemuth Siri Hustvedt, Literaturs­tar, Wissenscha­ftlerin, las in Augsburg aus ihrem noch un veröffentl­ichten Roman.

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