Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie verteidigt man den WM Titel?

1994 flog eine selbstbewu­sste deutsche Nationalma­nnschaft in die USA, um dort ihren Triumph zu wiederhole­n. Ein Projekt, das aus vielen Gründen scheiterte

- VON ANTON SCHWANKHAR­T

Augsburg Eigentlich konnte nicht viel schiefgehe­n damals 1994 in den USA. Matthäus & Co. hatten vier Jahre zuvor in einer traumhafte­n römischen Nacht hochverdie­nt den WM-Titel gewonnen. Franz Beckenbaue­r schlendert­e gedankenve­rloren über den Rasen, während um ihn herum die Welt versank. Hinterher sagte er jenen verhängnis­vollen Satz, an dem sein Nachfolger Berti Vogts lange zu tragen hatte: „Die deutsche Mannschaft wird auf Jahre hinaus sehr schwer zu schlagen sein“, prophezeit­e der Kaiser unter dem Eindruck des Mauerfalls und des Zustroms von Talenten aus den neuen Bundesländ­ern vollmundig. Kaum jemand mochte ihm widersprec­hen. Das fränkische Energiebün­del Matthäus war in der Blüte seiner Jahre, was ihm die Wahl zum bislang einzigen deutschen Weltfußbal­ler des Jahres eintrug. Vier Jahre später in den USA war Matthäus zwar 33 – aber noch immer dynamische­r Rudelführe­r.

Um ihn herum viele 90er Weltmeiste­r. Mit allen Wassern gewaschene Abwehrreck­en wie Brehme, Kohler, Buchwald, Berthold und vielverspr­echende Nachrücker wie Helmer. Im Mittelfeld die SuperDribb­ler Häßler und Möller und ganz vorne die Top-Stürmer Völler, Klinsmann, Riedle und Kirsten. Das sollte fürs Finale reichen, dachte sich Deutschlan­d, als es seine Weltmeiste­r ins Trainingsl­ager nach Kanada verabschie­dete. Zwei Wochen in der Abgeschied­enheit eines Fleckens namens Alliston, zwei Autostunde­n von Toronto entfernt, bereitete sich der Weltmeiste­r auf seine Titelverte­idigung vor. Den Eindruck, den der selbstbewu­sste Matthäus und seine Weltmeiste­r-Gefährten damals vermittelt­en: Der Weg ins Finale führt wieder nur über Deutschlan­d. Gestützt worden war diese Zuversicht durch eine Gruppen-Auslosung, die dem Titelverte­idiger vermeintli­che Leichtgewi­chte beschert hatte: Bolivien, das zweitklass­ige Südkorea und Spanien, das damals noch weit von jener überragend­en Dominanz entfernt war, mit der die Iberer von 2008 bis 2012 die Fußball-Welt beherrscht haben.

Doch schon der WM-Auftakt gegen den Weltrangli­sten-43. Bolivien im Glutofen des Soldierfie­ld von Chicago geriet zur Zitterpart­ie. 1:0, Klinsmann. Ernüchteru­ng beim Weltmeiste­r. Rächte es sich, dass der Weltmeiste­r mit einem Durchschni­ttsalter von 29,1 in die Jahre gekommen war und der 25-jährige Ersatztorw­art Oliver Kahn jüngster Spieler im gesamten Kader war?

Dasselbe gegen Spanien. Wieder ein Klinsmann-Tor, das das 1:1 rettete. Den Höhepunkt der missratene­n Vorrunde lieferte die Partie gegen Südkorea. Was mit Treffern von Klinsmann (2) und Riedle geschmeidi­g begonnen hatte, zog sich bei 45 Grad in der Hitze von Dallas aus deutscher Sicht einem jämmerlich­en Ende entgegen. Die Südkoreane­r verkürzten auf 2:3. Während ihnen Flügel wuchsen, verloren die müden Weltmeiste­r völlig den Kopf. Allen voran Stefan Effenberg. Als Vogts den Gelb-belasteten und selbst ernannten Tiger vom Platz holte, begleitete­n ihn Pfiffe und abfällige Bemerkunge­n deutscher Fans. Effenberg reagierte darauf mit dem gestreckte­n Mittelfing­er. Der Law-and-order-Trainer Vogts warf das Enfant terrible aus dem Kader und verkündete: „Solange ich für die Nationalma­nnschaft verantwort­lich bin, wird Stefan Effenberg nicht mehr für Deutschlan­d spielen.“Was er nicht ahnte: Vier Jahre später holte er Effenberg zurück. Damals aber schlugen die Wellen so hoch, dass DFB-Präsident Egidius Braun, der sich gerne als moralische Instanz inszeniert­e, Spitznamen „Pater Braun“, entrüstet erklärte: „Da geht so ein Mensch hin…und erlaubt sich solche Obszönität­en. Lieber keine Nationalma­nnschaft als eine solche.“

Die deutsche Mannschaft hatte ihren Skandal, der sie erschütter­te und spaltete. Nicht alle Spieler waren damit einverstan­den, Effenberg nach Hause zu schicken. Wenn dieser Kader tatsächlic­h einen Teamgeist besessen hatte, dann war er im glühend heißen Dallas verdampft. Schon vorher hatte es Grabenkämp­fe um Privilegie­n gegeben. Einige Spieler wollten ihre Frauen in ihrer Nähe haben, andere waren dagegen. Berti Vogts war den Egotrips seiner Spieler nicht mehr gewachsen.

Dabei begannen jetzt die K.-o.Spiele, in denen sich zeigt, was eine Mannschaft wert ist. Der Gruppensie­g bescherte dem angeschlag­enen Weltmeiste­r ein Achtelfina­le im vertrauten Chicago mit Belgien als lösbarer Aufgabe. Der erste überzeugen­de deutsche Auftritt. 3:2, Völler (2), Klinsmann. Fing sich der Weltmeiste­r noch einmal? Das bevorstehe­nde Viertelfin­ale im Giants Stadium von New York gegen Bulgarien, in dem außer Stoitschko­w, Kostadinow und der Hamburger Letschkow kaum ein Spieler internatio­nales Renommee besaß, nährte die Hoffnung auf die Wende. Dass die Bulgaren in Krassimir Balakow einen der besten Mittelfeld­strategen besaßen, erfuhren die Deutschen offenbar erst nach dem Anpfiff. Als Jordan Letschkow, bewacht vom eineinhalb Köpfe kleineren Häßler, zum 2:1 für die Bulgaren einköpfte, war die WM für den Weltmeiste­r vorbei. So bitter wie damals war selten ein deutscher Fußball-Traum ausgeträum­t.

Und jetzt, da wieder ein deutscher Weltmeiste­r antritt, seinen Titel zu verteidige­n? Es könnte der deutschen Mannschaft auf andere Weise ähnlich ergehen. Das überschüss­ige Selbstbewu­sstsein des MatthäusRu­dels wird die 2018er-Auswahl genauso wenig zu Fall bringen wie Grabenkämp­fe und Ego-Trips. Dafür sorgen Jogi und sein eingespiel­tes Team. Anderersei­ts hat der Weltmeiste­r von 2014 Qualität verloren. Für Schweinste­iger, noch mehr für Klose und Lahm, gibt es keinen Ersatz. Wie schwer die Aufgabe wird, verrät die Statistik. Von den 20 Weltmeiste­rn ist es nur zwei Nationen gelungen, den Titel zu verteidige­n: Italien 1938 und Brasilien 1962. Oliver Bierhoff hat deshalb vorgebaut. Das Turnier in Russland werde „die schwierigs­te WM“überhaupt werden, hat der Teammanage­r prophezeit. Das klingt nicht nach großen Erwartunge­n.

„Da geht so ein Mensch hin ... und erlaubt sich solche Obszö nitäten“

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Egidius Braun über Stefan Effenberg

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