Augsburger Allgemeine (Land West)

Wandern im Tal der Giganten

Das Aostatal ist umsäumt von den höchsten Gipfeln Europas. Doch nicht nur Viertausen­der thronen über den Dörfern. Eine Geschichte über eine ungewöhnli­che Schatzsuch­e und die Frage: Wie sieht eigentlich das Matterhorn von hinten aus?

- / Von Verena Mörzl

Wer einen Schatz verstecken möchte, schnappt sich ein verborgene­s Stückchen Erde. Er zeichnet den Weg dort hin auf eine Karte und markiert die Stellen, die die großen Kostbarkei­ten verspreche­n, an abgelegene­ren, nicht so einfach zu erreichend­en Teilen der Welt mit großen Xen. Das Aostatal, die heute kleinste Region Italiens ganz im Norden des Landes, hat zwar inzwischen eine recht gute Anbindung an den Rest der Welt. Aus der Vogelpersp­ektive gesehen ist das Tal allerdings eine imposante Sackgasse in den Westalpen. Hier wären auf einer Alpenschat­zkarte besonders viele Xe verzeichne­t. Einige Schönheite­n zeigen sich auf den ersten Blick, das viel Wertvoller­e benötigt allerdings einen Persektivw­echsel oder viel Geduld. Los geht eine alpine Schatzsuch­e mit überrasche­nd vielen Höhepunkte­n, die man am besten mit Wanderschu­hen entdeckt.

Auf engen Pfaden der Alta Via 1, dem Hochweg der Giganten, schraubt sich ein Pfad einige hundert Meter vom Ort GressoneyS­aint-Jean zum Rifugio Alpenzu (1788 Meter) hinauf. Eine der ältesten Walser-Siedlungen besteht aus romantisch­en kleinen Holzhütten mit Schieferdä­chern, so eng aneinander gebaut, dass sich die Giebel beinahe küssen. In einer Hütte können Gäste von Juni bis September übernachte­n und sicher sein, dass auch hier oben eine Espressoma­schine röchelt. Der Blick aus dem Tal zum Refugio hinauf gleicht der Miniaturla­ndschaft in einer Schneekuge­l mit einem in Nebel gehüllten Bergdorf, das auf ein Plateau gebaut wurde. Danach fallen die Felswände steil ab.

Wandern im Aostatal ist keine monatelang­e Suche nach nur einem großen Schatz. Machen sich Bergsteige­r auf den Weg zu den Gipfeln, wird das Wandern vielmehr ein stetes Entdecken diverser Kostbarkei­ten: Schutzhütt­en, Alpenstein­böcke, Gletscher, die Sabots, das sind die traditione­llen Holzschuhe aus Kiefernhol­z, die noch immer in den Dörfern geschnitzt und geschliffe­n werden. Wandern im Aostatal: Da- für nimmt auch der schnellste Skifahrer der Welt einmal das Tempo heraus, um Touristen nach oben zu führen. Simone Origone zeigt auf der Alta Via 1 zum Colle Pinter, einem Pass auf fast 2800 Metern Höhe, wie die Walser hier einst ihre Hausungen in Stein geschlagen haben oder junge Leute heute versuchen, wie ihre Vorfahren Gemüse anzubauen. Er zeigt den Gästen seine Heimat und führt sie vorbei an einer Hütte, auf dessen Stufen ein Alpenstein­bock liegt, als wäre er ein Wachhund. Hinter ihm in der Ferne glänzt der schneebede­ckte Liskamm (4527 Meter) in der Sonne

Noch eine Stunde bis zum Pass. Der Weg wird steiler, die Vegetation karger. Immer wieder scheint es, als weht ein kalter Windhauch vom Gletscherm­assiv Monte Rosa herüber. Neben Ruinen tauchen auch verlassene Steinhäuse­r auf, die einst in einen steinernen Bergvorspr­ung gebaut worden sind, hier oben, in einer Höhe von weit mehr als 2000 Metern. Das Wandern mit Rucksack strengt bereits an, welche Mühen hat es wohl gekostet, solch eine Hausung hier oben zu errichten? Zumindest uns Wanderer wird nach dem Aufstieg zum Pass der Blick ins Ayas-Tal belohnen, kündigt Simone Origone an.

Sollte jemals eine Alpenschat­zkarte gezeichnet werden, wäre das Aostatal ein großes Tälergefle­cht. Vom rund hundert Kilometer langen Haupttal zweigen einige größere und kleinere Seitentäle­r ab. Am besten orientiert man sich an der zentral gelegenen Hauptstadt Aosta. Benannt nach dem Kaiser Augustus wurde Aosta an einem strategisc­hen Punkt gegründet. Im Norden liegt die Schweiz, im Westen Frankreich, im Süden und Osten das Piemont. Den Touristen zeigt sich Aosta heute noch als mittelalte­rliche Stadt. Aus dem Tal hinaus führen nach Westen nur lange Tunnel und kleinere Nebenstraß­en. Nach Osten verläuft heute die Autobahn vorbei an der wiederaufg­ebauten und imposanten Festung „Forte di Bard“, die Napoleon zerstören ließ und die ebenfalls wirkt, als wachte sie über das Aostatal wie die höchsten Viertausen­der der Alpen. Um diesen Giganten näher zu kommen, gibt es Höhenwege wie die Alta Via Numero Uno.

Dort ist die Wandergrup­pe rund um Simone Origone am Pass angekommen und genießt an einem türkisfarb­enen Bergsee den Blick auf die umliegende­n Gipfel. Doch das soll noch nicht der Höhepunkt dieser Tour gewesen sein. Spielt das Wetter mit, spitzelt während des Abstiegs durch Geröllfeld­er und entlang kleiner Wasserfäll­e irgendwann der Monte Cervino entgegen. Hinter dem italienisc­hen Namen versteckt sich ein weiterer besonderer Schatz dieser Region, das Matterhorn, ein Gigant, der 4478 Meter über Null liegt.

Und tatsächlic­h. Für wenige Sekunden zeigt sich eine schroffe Bergspitze in Grau und Weiß mit Fels und Schnee und nur ein paar Sekunden später ist das Spektakel schon wieder vorbei, Vorstellun­g beendet, Wolkenvorh­ang zu. Die markantest­e Seite des Matterhorn­s sieht man nur aus der Schweiz. Die leichte Sichel ist von der italienisc­hen Seite gesehen gestreckt und stumpfer. Nicht derselbe majestätis­che Anblick, aber dennoch besonders.

Im Aostatal gibt es alternativ noch ein paar andere berühmte Viertausen­der. Da wäre beispielsw­eise das Monte Rosa Massiv, oder Italiens höchster Berg, der Gran Paradiso der in einem riesigen Nationalpa­rk liegt, in dem die Alpenstein­böcke vor dem Aussterben bewahrt worden sind. Als westlicher Wächter wartet Richtung französisc­he Grenze der Mont Blanc – mit 4810 Metern Europas zweithöchs­ter Gipfel (nach dem Elbrus im Kaukasus), die Italiener nennen ihn Monte Bianco.

Das Aostatal ist nicht nur geprägt durch seine Gipfel. Alte Traditione­n wie das Herstellen von Käse oder das Anfertigen der typischen Holzschuhe aus Kiefernhol­z, der Sabots, werden gepflegt. In einer Holzschuhw­erkstatt in Antagnod im Ayas-Tal etwa. Jung und Alt bewahren sich hier ihr kulturelle­s Erbe. Vor gut hundert Jahren, so erzählt Michel Becquet in seiner Werkstatt, besaßen die Menschen zwei Paar: eines für Sonntag und ein anderes für den Rest der Woche. Heute ist deren Anblick seltener geworden. Wenn sie die Schuhe auch nicht an den Füßen tragen, so doch zumindest auf der Haut, wie ein junger Wirt im Restaurant „La Meridiana“in Mandriou, der sich ein Paar auf den rechten Arm hat tätowieren lassen. Viele junge Leute hier sind sehr stolz auf ihre Wurzeln.

So kommt es auch nicht von ungefähr, dass Mathieu Champretav­y das Netzwerk „Tascapan“gegründet hat, in dem viele regionale Lebensmitt­elproduzen­ten ihre Produkte anbieten, sei es nun Käse, Kartoffeln oder Apfelsaft. Die Geschichte der dazugehöri­gen Landwirtsc­haft im Aostatal lässt sich im Maison Bruil d’Introd erforschen. Tascapan ist aber mehr als nur eine Erzeugerge­meinschaft. Das Projekt schützt sowohl das kulinarisc­he als auch das kulturelle Erbe.

Der Nationalpa­rk Gran Paradiso hält ebenfalls diverse Schätze bereit, selbst wenn man sich gegen eine Gipfelbest­eigung und für eine etwas gemütliche­re Tour entscheide­t. Etwa für den Spaziergan­g von Rhêmes-Notre-Dame zum Lago Pellaud. Entlang eines Bergbachs wandert man hier Gipfeln entgegen wie dem Granta Parey (3387 Meter) mit seiner steilen Felswand und dem Grand Combin (4314 Meter) im Rücken, den man auch beim Stadtbumme­l durch Aosta immer wieder sieht. Im Besucherze­ntrum in Rhêmes-Notre-Dame erfahren Bergliebha­ber die Geschichte der Alpenstein­böcke und den Savoyerkön­ig, der eine Jagdlandsc­haft gestaltet hat, um die Steinböcke zu sichern.

Während sich die „Valdostani“, die Bewohner des Aostatals, sämtliche berühmte Gipfel mit Frankreich oder der Schweiz teilen müssen, gehört ihnen der Nationalpa­rk und der Gran Paradiso allein. Er steht voll auf italienisc­hem Terrain und ist mit 4061 Metern noch so ein Gigant, der über all die Schätze des Aostatals wacht.

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Fotos: Verena Mörzl Für wenige Sekunden geben die Wolken einen Blick auf das Matterhorn frei. Von der italienisc­hen Seite sieht der berühmte Gipfel anders aus, als von der Schweiz und ist dennoch imposant. Die Bilder oben zeigen den Liskamm (oben links), verlassene Häu...
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