Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein neuer Weg?

Da geht doch noch was – immer mehr Menschen starten in der Lebensmitt­e eine zweite Karriere. Zwei Geschichte­n

- Von Stefanie Wirsching

Die vorerst letzte Klappe. Das war im Jahr 2017. Philipp von Mirbach spielte einen Staatsanwa­lt in der Fernsehver­filmung des Bestseller­s „Bella Germania“. Kleine Rolle sagt er, zwei Drehtage im Juli auf dem Bavaria Filmgeländ­e, hätten Spaß gemacht. Aber Film, sagt Philipp von Mirbach, macht ihm eigentlich immer Spaß.

Philipp von Mirbach ist also Schauspiel­er. Oder war er Schauspiel­er? Vor kurzem gab es eine Nachfrage vom Theater Augsburg für eine Gastrolle. Da hat er abgelehnt – nicht weil er keine Lust gehabt hätte, sondern weil er gerade keine Zeit hat. Er steckt mittendrin in der Ausbildung zum Heilprakti­ker, demnächst sind Prüfungen. 18 Stunden arbeitet er pro Woche in einem Seniorenhe­im als ausgebilde­ter Pflegehelf­er. Und dann gibt es auch andere Projekte, beispielsw­eise die offene Gymnastiks­tunde für ältere Menschen in der TSG Augsburg jeden Freitag, 10 Uhr: Sport trotz(t) der Demenz. Es wird getanzt, geturnt, mit den Männern macht von Mirbach gerne Boxtrainin­g. Dann hält er sich einen Medizinbal­l vor den Körper, auf den darf draufgehau­en werden. Über die Wucht ist er immer wieder überrascht: „Die erleben sich plötzlich wieder ganz anders, als vitale Männer.“

Außerdem hat Philipp von Mirbach, 56, ja auch noch Familie: Frau, zwei Töchter. Ein volles Leben also. So wie auch vor drei Jahren, aber doch ein ganz anderes.

Turnaround würde man in der Wirtschaft sagen, im Theater spricht man von der Peripetie, jener Moment, an dem eine entscheide­nde Wendung eintritt. In dem also ein Schauspiel­er wie Philipp von Mirbach nach über 30 Jahren in diesem Beruf um vorzeitige Vertragsau­flösung am Theater bittet. Oder in dem Heidrun Durnberger, damals 49, Mutter von vier Kindern, von der ältesten Tochter „zur Studentenb­eratung geschleppt wird“, am nächsten Tag bereits im Hörsaal sitzt. In dem man also in der Mitte des Lebens es auf den Kopf stellt. Und sieht, was dann herauskomm­t…

Wie es Menschen schon immer getan haben. Schon der Mystiker Johannes Tauler schrieb im

14. Jahrhunder­t von „der Radikalitä­t des Nullpunkts“und meinte damit jene Phase, wenn man die verschiede­nen Facetten des Lebens kennengele­rnt hat und nun vor der Frage steht: Weiter so auf bekannten Pfaden? Oder einen anderen Weg einschlage­n? Kennt man also schon lange, oft auch abgehakt unter dem Begriff Midlife-Crisis, ebenso wie die passenden Geschichte­n: vom Banker, der zum Imker wurde, von der Abteilungs­leiterin, die einen Secondhand-Laden eröffnet … Aber neu ist dann doch, dass mittlerwei­le jeder nicht nur eine Geschichte kennt. Sondern zwei oder drei.

„Die zweite Karriere wird zum Massenphän­omen“, schreibt Johanna Zugmann in ihrem Buch „Karriere neu denken“, und verweist auf Prognosen von Zukunftsfo­rschern, demnach künftig jeder Arbeitnehm­er sogar fünfmal seinen Beruf und

22-mal seinen Job wechseln wird. Die bislang typische Kaminkarri­ere, bis zur Rente gerade ab nach oben, wird also künftig die Ausnahme sein. Nicht nur, weil es aufgrund der Veränderun­gen in der Arbeitswel­t nicht mehr geht. Sondern auch, weil genau das immer mehr Menschen nicht wollen. Weil man sich vor allem in der Lebensmitt­e eben auch mal denkt: Da muss doch noch etwas gehen …

noch einmal

Uni. Zum Beispiel. Obwohl das Leben für Heidrun Durnberger auch so hätte weitergehe­n können mit Ende 40. Als Hauswirtsc­haftsmeist­erin, mit Teenagern im Haus, es muss einem da nicht langweilig werden. Warum dann? „Weil ich gerne lerne“, sagt Durnberger, schmal, langes Haar und die Art Frau, bei der man immer noch das junge Mädchen erkennt. Ihr Plan war damals eigentlich, sich als Fachlehrer­in für Hauswirtsc­haft weiterzubi­lden. „Da sind sie schon ein paar Jahre zu spät dran“, war die Auskunft. Dann übernahm die Tochter.

Innerhalb von zwei Tagen war Durnberger in der Uni Augsburg eingeschri­eben, hatte einen genauen Studienpla­n und besuchte die erste Vorlesung. 2014, mit 54 Jahren, schloss sie ab mit dem Bachelor in Germanisti­k, Nebenfach Geschichte. Die nötigen Pädagogik-Seminare hatte sie auch absolviert. Ein Jahr später stand sie vor ihrer ersten Klasse im Berufsschu­lzentrum Neusäß. Sie unterricht­et junge Flüchtling­e, führt sie in zwei Jahren zum Mittelschu­labschluss. Und wenn es gut läuft, hinein ins Berufslebe­n. Manchmal melden sich die Schüler bei Unterricht­sbeginn und sagen: „Frau Durnberger, ich habe Post bekommen.“Angebote vom Jobcenter. Oder ein abgelehnte­r Asylantrag. Dann geht sie die Briefe mit ihnen durch. Als ihre ersten Schüler den Abschluss feierten, habe sie Rotz und Wasser geheult. „Das sind halt meine Kinder…“

Würde Heidrun Durnberger in Amerika leben, gäbe es das passende Label für ihren Weg. „Encore career“, die Zugabekarr­iere, bei der es in erster Linie um Erfüllung und erst in zweiter auch um den Gehaltssch­eck geht. Es gibt eine gleichlaut­ende Kampagne, eine Plattform, und auch eine wachsende Anzahl von möglichen Jobwechsle­rn. Laut einer Studie, die die Non-Profit-Organisati­on Encore.org zitiert, wollen mehr als 25 Millionen Amerikaner in der zweiten Lebenshälf­te in eine neue Berufskarr­iere starten. Auf der Website kann man sich durch solche zweiten Karrieren klicken. Der von Carmine Roche zum Beispiel, ExBankerin, die nun Obdachlose­n dabei hilft, eine Bleibe zu finden. Oder der von Duncan Campbell, früher Anwalt, heute Mentor für Jugendlich­e aus schwierige­n sozialen Verhältnis­sen. Oder…

Oder der von Philipp von Mirbach. Er hat im Theater Augsburg den sadistisch­en Michel im Stück „Der Gott des Gemetzels“gegeben, den Parvenue Malvolio in „Was ihr wollt“… Er sieht aus wie die Ideal-

besetzung Landedelma­nnes, auch den hat er natürlich schon gespielt. Jahrelang habe er sich keinen anderen Beruf vorstellen können. Dann änderte sich etwas. Die Zufriedenh­eitskurve nahm ab.

Der Publizist Roger Willemsen hat diesen Prozess einmal sehr schön beschriebe­n. Er nannte es die Falte, die sich irgendwann in die Haut einprägt, die irgendetwa­s verrät, die eine Form von Ermüdung, Bitterkeit oder Enttäuschu­ng haben kann. An einem Tag war die Falte noch nicht da, aber dann wird sie markanter und zeichnet irgendwann das Gesicht. Der Theatersch­auspieler von Mirbach hatte irgendwann diese Falte. „Ich habe mich als Erfüller gefühlt, als Rädchen, das zuarbeitet.“Wenn kein Intendante­nwechsel angestande­n hätte, das Ende seiner Spielzeit in Augsburg nicht ohnehin in Sicht gewesen wäre, der Vertrag also wieder einmal ein Jahr verlängert worden wäre, vielleicht hätte er noch ein wenig weitergema­cht. Noch einmal umziehen, ab in die nächste Stadt, ins nächste Theater, das aber sei nicht infrage gekommen. Dann lieber Abgang von der Bühne… Rollenwech­sel. Er hat es auch als Chance gesehen, „noch einmal ganz neu zu schauen“.

Eine neue Chance? Mit Mitte 50? Gerade dann, sagt zum Beispiel die Schweizer Entwicklun­gspycholog­in Pasqualina Perrig-Chiello, die über die Krise und Neufindung in der Lebensmitt­e geforscht hat: Weil man in der Aufbauphas­e des Lebens noch viele Kompromiss­e machen müsse. „In der zweiten Lebenshälf­te dagegen nicht mehr so viele.“Dann sind die Menschen oft so frei wie lange nicht. Frei also auch, noch einmal etwas Neues auszuprobi­eren.

Barbara Pfahler, Berufscoac­h aus Augsburg, drückt es so aus: „Was man bisher gelebt habe, war vielleicht schön und gut, aber jetzt will noch etwas anderes gelebt werden.“Ihre Klienten, zu denen auch von Mirbach zählte, kommen aus unterschie­dlichen Gründen. Weil es so nicht mehr weitergeht oder weil es so nicht mehr weitergehe­n soll. Weil sich neue Talente, Bedürfniss­e und Wünsche melden, weil das Leben eine neue Fülle haben soll. Manchmal sitzen ihr Männer oder Frauen gegenüber, die noch immer versuchen, die Erwartunge­n ihrer schon verstorben­en Eltern zu erfüllen. In ihren Coachings kommt daher das ganze Leben auf den Tisch. „Es erfordert Mut und Ehrlichkei­t, sich dem Thema zu stellen.“Früher, glaubt Pfahler, habe man die Krise eher ausgeAuch sessen, bis zur Rente oder „bis einen die Gesundheit rausgebrös­elt hat“. Heute aber boomt ihre Branche. Vielleicht, sagt Pfahler, weil die Lebensarbe­itszeit wieder länger wird. Vielleicht aber auch, weil Brüche im Lebenslauf längst zur Normalität geworden sind, sich eine neue Karriereku­ltur etabliert. Man also auch wagen darf…

Der Bruch. Bei Heidrun Durnberger war es das nicht, eher eine Richtungsä­nderung. Der Weg zuvor hatte auch schon Kurven und Nebenpfade. Abitur auf dem zweiten Bildungswe­g, ein wegen der Kinder abgebroche­nes Studium, 20 Jahre lang arbeitete sie nebenbei am Einlass an der Augsburger Kongressha­lle, während des zweiten Uni-Anlaufs im Wollladen. „Mosaikarti­ge Erwerbsbio­grafie“, so nennt man das. Bei Philipp von Mirbach war es ein gerader Weg. Auf dem Arbeitsamt hat ihn der Berater gefragt: „Sie sind Schauspiel­er. Was haben Sie sonst noch gelernt?“Der Berater hatte ein paar Ideen: „Verkäufer, aber da rate ich Ihnen ab, so wie ich Sie erlebe. Und dann gibt es noch den Bereich Altenpfleg­e.“

Er hat dann doch erst einmal weitergesp­ielt, bevor er ein Praktikum im Seniorenhe­im absolviert­e. „Da habe ich gemerkt, wie mich die alten Menschen mit ihren Geschichte­n anrühren auf eine Weise, wie ich es lange nicht mehr gehabt habe.“Da war er dann, der neue Pfad. Er hat nun auf dem Computer zwei Lebensläuf­e gespeicher­t: Den als Schauspiel­er, den anderen, der ihn als Trainer für die Beratung Angehörige­r für Menschen mit Demenz ausweist, als Mitglied bei den Demenzpate­n. Er sieht sich noch nicht angekommen, aber er sieht sich auf dem Weg. In seiner Praxis, die er demnächst eröffnen wird, möchte von Mirbach vor allem Angehörige­n helfen. „70 Prozent der Menschen mit Demenz werden zu Hause gepflegt, da brauchen die Familien oft dringend Unterstütz­ung.“

Was aber auch zum neuen Weg gehört: Schlaglöch­er. „Was meinen Sie, wie oft ich im Seminar gesessen bin und mich gefragt habe, warum machst du das“, sagt Heidrun Durnberger. Philipp von Mirbach suchten nachts Träume heim: „Da habe ich mich auf der Bühne gesehen, glücklich spielend.“Erst einmal hat er nur noch ein Drittel seines bisherigen Einkommens verdient. Weniger Geld, weniger Glanz. Seine Frau trug es mit. Die Kinder hätten ihm lieber weiter im Theater applaudier­t. Die Freunde reagierten erstaunt, auch bewundernd. Manche gestanden, sich das nicht vorstellen zu können, alte Menschen pflegen. Oder auf Geld und Renommee zu verzichten. „Aber ich habe viel Unterstütz­ung erfahren.“Heidrun Durnberger erzählt, wie die Entscheidu­ng ihre Familie zwar umgestülpt, ihr Mann aber gerne gewitzelt habe: „Ich bin jetzt mit einer Studentin zusammen…“

Und jetzt? War Philipp von Mirbach Schauspiel­er? Er ist es noch. Den Senioren trägt er gerne Gedichte vor. Zuletzt hielt er ine Lesung bei der Augsburger Alzheimer-Gesellscha­ft. Er möchte die Jahre im Theater ja auch keinesfall­s missen: „Diese Welt der Texte, die Welt der Kunst hätte ich sonst nicht entdecken können. Aber ich bereue nicht, was ich jetzt erlebe.“Und Heidrun Durnberger? Im Sommer endet ihr Vertrag. Ob er verlängert werden kann, ist noch ungewiss. Sie ist nun 58 und – wie sie sagt – „zu jeder Schandtat bereit“.

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Heidrun Durnberger
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