Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Mobilität muss neu gedacht werden
In Baden-Württemberg sichert die Autoindustrie den Wohlstand. Dort lässt sich auch beobachten, was passiert, wenn Verantwortliche Herausforderungen ignorieren
Baden-Württemberg, Autoland, Wohlstand. Diese Begriffe gehören seit Jahrzehnten zusammen. Der reiche Südwesten ist Heimat der Luxusfahrzeuge von Daimler und Porsche, Sitz der Zuliefererriesen Bosch und ZF Friedrichshafen und zahlloser weiterer kleiner und mittlerer Unternehmen, die an der Autobranche hängen. Er lebt von den Folgen dessen, was Carl Benz und Gottlieb Daimler vor knapp 140 Jahren austüftelten. Und auch die breite Bevölkerung lebt sehr, sehr gut davon. Noch.
Über 200 000 gut bezahlte Arbeitsplätze in Baden-Württemberg hängen direkt an der Herstellung von Kraftfahrzeugen und -teilen, über 400000 weitere indirekt. Wer bei Daimler oder Bosch Schicht arbeitet, fährt nach der Arbeit oft im Auto mit dem Stern in die Eigenheimgarage und zwei- bis dreimal im Jahr in den Urlaub. Auch der Lackierer bei Porsche hält zusätzlich zu Branchenspitzenlöhnen jährlich eine hohe vierstellige Gewinnbeteiligung für selbstverständlich.
Den ersten dämmert allerdings schon, dass das alles viel schneller vorbei sein könnte, als sie es derzeit für möglich halten. Zumindest dann, wenn weiter mit aller Macht ignoriert wird, was anderswo schon deutlich sichtbar ist: Das Zeitalter des Autos als Symbol von Wohlstand und persönlicher Freiheit, ist vorbei. Die Zeit der individuellen Mobilität, wie wir sie heute kennen und als wesentliches Element unseres Lebens begreifen, geht zu Ende. Die Mobilitätskonzepte der Zukunft sehen anders aus. Das nicht wahrhaben zu wollen, ändert daran nichts. Das macht es nur schwieriger. Das Auto ist ein totes Pferd. Die Basis des Wohlstands beginnt zu siechen.
Die Menschen in Städten und verdichteten Ballungsräumen werden als erste zu spüren bekommen, wie sich die Mobilität wandelt. Die stetig wachsende Zahl der Pendler merkt es schon jetzt: Mit dem Auto unterwegs zu sein, heißt nicht mehr, mobil zu sein. Sondern genau das Gegenteil – Stillstand. Daran würde sich auch mit Elektroautos nichts ändern. Bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, auf die die heimische Autoindustrie unverdrossen und mit schamloser Dreistigkeit weiter setzt, kommt auch noch die Abgasproblematik dazu. Ob es uns passt oder nicht: Szenarien, dass der Individualverkehr – gleich welchen Antriebs – gänzlich aus den Ballungsräumen verbannt wird, sind keine Hirngespinste von Autofeinden, sondern bereits Realität. Die Mobilität von morgen ist eine Kombination aus vernetzten, intelligenten, elektrifizierten öffentlich bereitgestellten, zum Teil autonomen Systemen. Individualverkehr wird bestenfalls noch einen kleinen Teil davon ausmachen.
In Stuttgart ist im Rahmen der Luftreinhaltungs- und Fahrverbotsdebatte derzeit zu erleben, wohin es führen kann, wenn Autoindustrie und Politik gleichermaßen die Augen verschließen vor dem Offensichtlichen: Gerichte zwingen die Politik, auf andere Mobilitätskonzepte zu setzen. Dass gerade im Autoland Baden-Württemberg die Ingenieurs- und Tüftlerschmieden nicht an der Spitze dieser Entwicklung stehen, sondern hinterherschleichen, ist nicht nur beschämend für den Standort, sondern auch verheerend für die wirtschaftliche Perspektive.
Stuttgart hatte eine neue Elektrobus-Linie als Meilenstein angekündigt, doch auf der Strecke fahren Busse eines ausländischen Herstellers. Der Grund: fehlende heimische Angebote. Daimler hat die Serienproduktion des E-Busses Citaro gerade erst in Vorbereitung.
In Mannheim ist es nicht besser. Dort wurde ein Pilotprojekt mit zwei Elektrobussen wegen zu hohen Aufwands gleich wieder beendet. Und in China? Rollen Elektro- und Hybridbusse bereits zu Tausenden aus eigener Produktion vom Band. Allein in Peking sollen bis in zwei Jahren 10 000 dieser Busse unterwegs sein. Das Land bekommt einen Markt-, Produktions- und Erfahrungsvorsprung, der erst einmal eingeholt werden muss.