Augsburger Allgemeine (Land West)

„Seehofer ist der Lafontaine der Konservati­ven“

Der Historiker Paul Nolte erklärt die politische Dimension des Asylstreit­s und seine Folgen für das Parteiensy­stem

- Interview: Bernhard Junginger

Herr Professor Nolte, ein CSU-Minister stellt einer CDU-Kanzlerin ein Ultimatum und droht mit Rücktritt – gibt es in der Geschichte Beispiele für diesen erbitterte­n Streit in der Union? Paul Nolte: Natürlich liegt der Vergleich mit dem Jahr 1976 nahe, mit der kurzzeitig­en Aufkündigu­ng der Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU, dem sogenannte­n Kreuther Trennungsb­eschluss. Wobei die Entfremdun­g und die Krise zwischen den Unionspart­eien mindestens so tief sind, wie das 1976 der Fall war. Eine andere Parallele aus der jüngeren deutschen Geschichte hat mit der Union gar nichts zu tun. Das ist der Abgang des damaligen Bundesfina­nzminister­s Oskar Lafontaine von der SPD aus der rotgrünen Bundesregi­erung von Gerhard Schröder im März 1999. Seit Seehofers Rücktritts­drohung – oder sollen wir sagen Rücktritts­angebot – drängt sich das auf. Da hat sich Seehofer meines Erachtens erheblich geschwächt und sich selbst auf die Abschussli­ste gesetzt. Sie sehen Seehofer als den Lafontaine des konservati­ven Lagers? Nolte: Genau. War Lafontaine ein linker Abweichler aus einer linken Regierung, ist Seehofer ein rechter Abweichler einer rechten Regierung. Der dann möglicherw­eise geht und dessen Gehen auch akzeptiert wird – nicht nur bei der CDU, sondern auch bei kühl kalkuliere­nden Strategen aus der CSU, zu denen ich durchaus auch Markus Söder zähle. Spaltet sich das konservati­ve Lager weiter auf? Nolte: Von einem konservati­ven Lager können wir in Deutschlan­d gar nicht mehr sprechen. Es gibt eine liberal-konservati­ve rechte Mitte, die von der Merkel-CDU vertreten wird. Dann gibt es Kräfte, die auf alten konservati­ven Positionen beharren, sich gesellscha­ftlich aber modernisie­rt haben und auch zu ihren europäisch­en Überzeugun­gen stehen. Das verkörpert im Moment Jens Spahn. Und es gibt den Einbruch des Populismus, der das frühere konservati­ve Lager komplett aufgemisch­t hat. Drohen unsichere politische Verhältnis­se wie in der Weimarer Republik? Nolte: Das nicht. Es gibt heute zwar nicht mehr zwei dominieren­de Volksparte­ien wie in den 1970er oder 1980er Jahren, allenfalls noch mit FDP oder Grünen dazwischen, sondern eine stärkere Fragmentie­rung. Aber im Unterschie­d zur Weimarer Zeit mit ihrem Konflikt zwischen moskautreu­en Kommuniste­n und Nationalso­zialisten gibt es keine republikfe­indlichen Mehrheiten in Politik und Gesellscha­ft. Der weit überwiegen­de Teil der Bürger steht fest zu demokratis­chen Grundsätze­n. Politische Koalitione­n sind schwierige­r, aber nicht unmöglich geworden. Sollte sich die CSU aus der Regierung zurückzieh­en, die Grünen Professor Paul Nolte. haben sich mehrfach angeboten und die FDP ist auch noch da. Unter Umständen und in der allergrößt­en Not wären sogar moderate Teile der Linksparte­i bündnisfäh­ig. Rückt die CSU aus Ihrer Sicht im Parteiensy­stem weiter nach rechts? Nolte: Ich kann mir das nicht vorstellen, eine AfD ist schließlic­h genug. Das wäre auch ganz unklug. Und ich glaube, dass auch in der CSU das Bemühen wächst, dass das Bündnis mit der CDU gerettet werden muss – notfalls auch um den Preis des Kopfes von Seehofer. Ist Horst Seehofer an dieser Eskalation der Hauptschul­dige? Nolte: Ich sehe einen sehr, sehr großen Anteil der Verantwort­ung bei ihm persönlich. Es wird zunehmend erkennbar, wie sehr er sich eingemauer­t hat mit seinem Innenminis­terium. Er hat sich mit seinen unnachgieb­igen Positionen in eine Sackgasse manövriert, der Ausweg ist nun versperrt.

Welche Fehler hat Merkel gemacht?

Nolte: Zunächst einmal hat sie in der Sache vieles richtig gemacht, vor allem hat sie es offenbar gut verstanden, die CDU hinter sich zu versammeln, was mich ein Stück weit überrascht hat. Ihr Versäumnis ist es aber, dass sie nicht stärker eine Kompromiss­linie angesteuer­t hat, was daran liegen mag, dass ihre persönlich­e Geschichte mit Horst Seehofer stark von erhebliche­n Kränkungen geprägt ist. Sie hätte durchaus einen Schritt auf Seehofer zu machen sollen. Der Streit in der Union kreist seit fast drei Jahren um Migration. Welchen Ausweg gibt es da für CDU und CSU? Nolte: Der Streit zieht sich ja auch durch die anderen Parteien. Doch insgesamt muss es in der Einwanderu­ngspolitik natürlich echte Fortschrit­te geben. Und ein Teil davon sind europäisch­e Lösungen. Es gibt aber auch deutsche Hausaufgab­en. Nicht unbedingt das, was Seehofer mit seinen nationalen Maßnahmen anstrebt. Aber dringend notwendig ist ein auch rechtlich abgesicher­ter Konsens darüber, wer in unser Land kommen darf, wer bleiben darf, wer Gastrecht genießt und auch, wer nicht dauerhaft bleiben darf. Profitiert die AfD von dem Streit oder ist eine Verschärfu­ng der Flüchtling­spolitik ein Mittel gegen die AfD? Nolte: Auf jeden Fall profitiert die AfD, solange von einem Thema nur die Rede ist, aber keine politische­n Lösungen gefunden werden. Das zeigen ja auch die Umfragen. Die Wähler müssen erkennen, dass die Politik handlungsf­ähig ist. Was bedeutet die Krise auf längere Sicht für unser Parteiensy­stem? Nolte: Es drohen durchaus Verhältnis­se wie in anderen europäisch­en Ländern, wo die etablierte Parteienla­ndschaft stark erodiert ist. Die SPD macht ja die Erfahrung, dass auf einen Tiefpunkt der nächste folgt. Und auch CDU und CSU dürfen sich nicht allzu sicher sein, dass sie diese Entwicklun­g nicht betrifft. Ich sehe in Deutschlan­d aber schon noch die Möglichkei­t, dass der Kollaps der Volksparte­ien wie in Italien, den Niederland­en oder teils auch in Frankreich vermieden wird. Aber sicher ist das nicht.

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Foto: imago

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