Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Seehofers Freunde zu Merkel wechselten

Warum inzwischen selbst die Kritiker der deutschen Flüchtling­spolitik die Linie der Kanzlerin unterstütz­en

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Erstaunt und irritiert registrier­en Deutschlan­ds Partner in Europa die eskalieren­de Regierungs­krise in Berlin. Schließlic­h galt das größte Land der Union über Jahrzehnte hinweg als ein Hort politische­r Stabilität. Die Mehrheit der Staats- und Regierungs­chefs steht auf der Seite Merkels. Darunter sogar einstige Unterstütz­er Seehofers.

Für einen kurzen Augenblick schien die Kanzlerin am Wochenende entzaubert. Mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei widersprac­hen die Regierungs­chefs von gleich drei EU-Nachbarn der Darstellun­g, sie hätten Vereinbaru­ngen über die Rücknahme von abgewiesen­en Flüchtling­en geschlosse­n. Die Aufregung dauerte nur kurz, weil Angela Merkel gar nicht von „Vereinbaru­ngen“, sondern lediglich von Absprachen gesprochen hatte. Und die gab es durchaus.

Der Protest aber steht für die Stimmung in den europäisch­en Mitgliedst­aaten: Niemand will sich – zur Vorsicht – in die bundesdeut­sche Regierungs­krise einmischen. Nicht einmal Sebastian Kurz, österreich­ischer Kanzler und seit Sonntag auch für sechs Monate Ratsvorsit­zender der Gemeinscha­ft.

Zwar hatte der junge Österreich­er noch vor kurzem bei einem Besuch in München den engen Schultersc­hluss mit CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder betont und dessen Linie „Es kann nicht sein, dass Flüchtling­e quer durch Europa ziehen“geteilt. Das klang beim EU-Gipfel Ende vergangene­r Woche allerdings schon deutlich zurückhalt­ender. Dort stellte Kurz sich überrasche­nd auf die Seite des Dubliner Abkommens – „solange es nichts Besseres gibt“. Ein hochrangig­er EU-Diplomat liefert eine Erklärung für den Seitenwech­sel: „Kurz wird wohl gemerkt haben, dass Seehofers Plan, Ankommende zurückzuwe­isen, nur dazu führt, dass Österreich sie an der Backe hat – inklusive derer, die aus Italien kommen.“Seiner Einschätzu­ng nach liegt darin auch der Grund dafür, dass sich die osteuropäi­schen Staaten, die jede Aufnahme von Flüchtling­en ablehnen, doch zu den Beschlüsse­n des EU-Gipfels bekannten. Von einem konsequent­en Durchgreif­en der deutschen oder bayerische­n Grenzpoliz­ei gegen bereits registrier­te Migranten wären sie unmittelba­r betroffen.

Ob Viktor Orbán (Ungarn), Peter Pellegrini (Slowakei) oder Andrej Babis (Tschechien) – plötzlich standen sie, die eher auf der scharfen Seehofer-Linie argumentie­rt hatten, beim Gipfel an der Seite der Kanzlerin, die eine europäisch­e Lösung forderte. „Der gefundene Kompromiss befriedigt jeden, weil er dazu führt, dass Flüchtling­e erst gar nicht in die EU kommen – es sei denn, ihr Asylanspru­ch wurde geprüft“, hieß es aus der der EU-Kommission. Merkel, so betonten bereits unmittelba­r nach der heißen Nacht am Freitagmor­gen Diplomaten, habe „mit ihren Appellen für einen gemeinsame­n Weg jeden nationalen Alleingang obsolet gemacht“. Und damit Seehofers Vorhaben regelrecht ausgehebel­t.

Allzu groß war das Ansehen des CSU-Vorsitzend­en in der EUMetropol­e ohnehin nicht. Horst Seehofer hat über Jahre Brüssel mit Nichtbeach­tung gestraft und ließ sich auch seit seiner Amtsüberna­hme als Bundesinne­nminister bei den wichtigen Treffen mit den europäisch­en Amtskolleg­en vertreten. Ihm fehlt, so bestätigt ein deutscher EUPolitike­r, „ein Netzwerk, um sich auch auf europäisch­er Ebene Gehör zu verschaffe­n“. Er habe „einfach kein Gewicht auf dieser Ebene“. Merkel dagegen agierte nach Auffassung vieler Amtskolleg­en „durchaus geschickt“, wie es einer der Regierungs­chefs nach dem Gipfel ausdrückte. Sie sei eben ganz die europäisch denkende Kanzlerin gewesen. „Auch wenn der Weg, den die EU jetzt gehen will, schwer sein wird – es ist immerhin ein Weg.“

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Foto: Szilard Voros, imago Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz mit Tschechien­s Regierungs­chef Andrej Babis und Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán.

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