Augsburger Allgemeine (Land West)

Von 38 Teufeln heimgesuch­t

In der psychiatri­schen Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren wurden Wahnvorste­llungen präzise aufgezeich­net. Erstmals hat eine Historiker­in die Akten aus 90 Jahren ausgewerte­t

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg Der Teufel scheint ein flexibler Geselle zu sein. Saß er im 19. Jahrhunder­t noch auf dem Pferdewage­n, fährt er ein paar Jahrzehnte später im Auto. Und der liebe Gott zeigt sich in der Glühbirne.

Verrückt? Tatsächlic­h haben Psychiater der Heil- und Pflegeanst­alt Kaufbeuren-Irsee solche Vorstellun­gen ihrer Patienten protokolli­ert. Man nannte sie Wahnsinnig­e und legte großen Wert darauf, ihr Denken und Wahrnehmen mit der Wirklichke­it abzugleich­en.

Minutiöse Abhandlung­en („zum Teil über vier Seiten zum Wahnerlebe­n eines Tages“) hat die Historiker­in Maria Christina Müller, die am Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbisch­e Landesgesc­hichte an der Uni Augsburg arbeitet, in alten Kaufbeurer Krankenakt­en entdeckt. Drei Jahre saß sie an deren Auswertung für ihre Doktorarbe­it, die inzwischen schon mit zwei Preisen ausgezeich­net worden ist, dem Ulmer Scultetus-Preis und dem regionalwi­ssenschaft­lichen Preis des Bezirks Schwaben.

Tatsächlic­h untersucht­e Müller erstmals die Diagnose Wahnvorste­llung aus verschiede­nen Perspektiv­en: Ärzte, Patienten, Alltagswis­sen dieser Zeit. Mithilfe einer Zufallssti­chprobe ist die Historiker­in 924 Fällen konkret nachgegang­en und leuchtet nun einen Zeitraum von 1849 bis 1939, also 90 Jahre aus. In dieser Epoche strebten die Psychiater nach medizinisc­her Anerkennun­g. Müller: „Sie wollten objektive Daten erzeugen. Deswegen waren die Schilderun­gen ihrer Patienten so wichtig, um die Grenze zu erkunden, was ein normaler Geisteszus­tand und was verrückt ist.“Was sich nicht in der dinglichen Welt abspielte, war für die Ärzte Wahn. Und davon erzählten ihnen ihre Patienten eine ganze Menge.

Die Fantasie- und Bildvorste­llungen reichten von 38 Teufeln am Leib über die Dreifaltig­keit hinter dem Herzen bis hin zu externen Beeinfluss­ungen durch Gedankenle­sen und Hypnose. „Die Krankenakt­en spiegeln, was die Menschen in ihrem Lebensvoll­zug beschäftig­t hat, und die kranke Seele spricht nicht von anderem als die gesunde“, so Müller. Deshalb würden ihre Vorstellun­gen oft erstaunlic­h modern ausfallen und von Elektrizit­ät, Magnetismu­s und Strahlen sprechen.

Bernhard H. aus München berichtete etwa im Jahre 1908, er werde durch elektrisch­en Strom misshandel­t, er fühle die Hoch- und Ungleichsp­annung der Ströme und Stromeinwi­rkungen auf alle seine Körperteil­e. Der Strom erzeuge Hitze und verursache gleichzeit­ig Schwitzen und Frieren. Außerdem würden ihm – so Bernhard H. – seine Gedanken entzogen durch „drahtlose Verbindung mit einer Teslastrom­leitung unter Anwendung von Schnellfot­ografien“.

Auch religiöse Themen waren stark vertreten. 38 Prozent der katholisch­en Psychiatri­e-Patienten, vor allem mit ländlicher Herkunft, hatten religiöse Wahnideen. „Und dieser Anteil nimmt nach 1900 kaum ab“, stellt Müller fest. Allerdings bemerkte die Historiker­in einen deutlichen Unterschie­d zwischen Stadt und Land – unabhängig von der Konfession. „Der Einzelne konnte sich dem Sog des Religiösen und der religiösen Kultur auf dem Land kaum entziehen, sei es im Sinne des inneren Glaubens oder durch die dörfliche Tradition.“

Der Arzt Gustav Blumröder sprach 1837 von „religiösem Terrorismu­s“, der zu Geisteskra­nkheiten führe. „Vielleicht wurden auch deshalb so viele religiöse WahnThemen aufgeschri­eben, weil sich die Psychiatri­e religionsk­ritisch vom nicht naturwisse­nschaftlic­hen Denken abheben wollte“, vermutet die Historiker­in.

Besonders überrascht aber war Maria Christina Müller, als sie die Krankenakt­en mit ehemaligen Artikeln der Augsburger Neuesten Nachrichte­n,

mit Gebetbüche­rn und Predigten abglich. Sie bemerkte „eine verblüffen­de Ähnlichkei­t“der Inhalte. Auch in diesen Quellen aus der Normalwelt wurden Röntgenstr­ahlung, technische Neuerungen, okkulte Praktiken und wunderlich­e Glaubensge­schichten abgehandel­t. „Die Schilderun­gen in den Krankenakt­en fallen teilweise gediegener aus als die bilderreic­hen spektakulä­ren Geschichte­n“, urteilt die Historiker­in jedoch. „Die Patienten erfanden wenig. Madonnener­scheinunge­n oder wundertäti­ge Kreuze waren in der Publizisti­k schon vorhanden.“So berichtete­n Zeitungen aufgeregt über die Eroberung des Himmels mittels Ballons und Zeppelinen. „Aber nie sprachen die Kaufbeurer Psychiatri­epatienten davon. Um sich auszudrück­en, brauchten sie offensicht­lich passgenaue Modelle.“

Es war eine Zeit rasanten Fortschrit­ts. Alles schien möglich, auch dank unsichtbar­er Kräfte wie Strahlen und Strom. Die Ärzte neigten zu der Ansicht, die Psyche der Patienten könne den Umbruch nicht verarbeite­n. Sie unterschie­den zwischen persönlich­er Innen- und objektiver Außenwelt. „Dem Kranken ist die Wirklichke­it abhandenge­kommen, und er taucht in eine neue Welt des Scheins und der Lüge ein“, schrieb 1845 der Begründer der wissenscha­ftlichen Psychiatri­e, Wilhelm Griesinger. Infrage gestellt wurde diese Ansicht, als 1913 Karl Jaspers seinen phänomenol­ogischen Ansatz publiziert­e. Der Psychiater rechnete Wahnvorste­llungen der Lebenswelt des Patienten zu.

Dennoch sollte die Psychiatri­e noch lange definieren, was als normal, was als krank zu gelten hat. Ärzte hielten Patienten teilweise bis zu 40, 50 Jahre unter Verschluss, sodass sogar der Verdacht, man werde in der Anstalt durch Medikament­e vergiftet, entstanden ist.

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Foto: AKG Images Ein Mensch bedrängt von Wahnvorste­llungen in Form von kleinen diabolisch­en Figuren. England 1823.

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