Augsburger Allgemeine (Land West)

Was ist das Glück auf Reisen?

Es ist nicht leicht, Freiheit auszuhalte­n. In Mexiko stellt sich Bastian Sünkel großen Fragen – Serie, Teil 4

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Als sich der Mann mit Stock, in abgetragen­em Jackett und zerlumpten Jeans neben mich auf die Parkbank setzt, bin ich immer noch gedankenve­rloren. Meine Gedanken kreisen seit Stunden um Leo Trotzki, der ein paar Blöcke weiter im kulturträc­htigen Stadtteil Coyoácan in der Millionenm­etropole Mexiko-Stadt seinen Tod durch den Eispickel fand. Ich habe das festungsar­tige letzte Zuhause des sowjetisch­en Revolution­sführers besucht, eine Flasche „Red Cola“im Garten gefunden und gelernt, dass er in seinen letzten Lebensjahr­en nach der Flucht nach Mexiko nicht nur antistalin­istische und -kapitalist­ische Manifeste verfasst, sondern auch intensiv seine Hühner gehegt und an der Vielseitig­keit seines Kakteensga­rtens gearbeitet hat.

Es dauert allerdings nicht lange, bis mein unbekannte­r Sitznachba­r meine volle Aufmerksam­keit hat. Erst fragt er mich auf Spanisch nach einer Zigarette, dann woher ich komme und schließlic­h spricht er Deutsch, die Sprache seiner Großeltern, wie er erzählt. Er entschuldi­gt sich dafür, dass er nicht immer die richtigen Worte finde. Es seien viele Jahre seit seiner Kindheit vergangen. Aber die Lieder vergesse man nicht. Wir singen zusammen „Die Gedanken sind frei“und „Auf einem Baum ein Kuckuck“. Dann erzählt er, wie er auf der Parkbank gelandet ist. Nach einer unglücklic­hen Beziehung und einem Streit mit seiner Schwester ist der 63-Jährige vor vier Jahren in sein Auto gezogen. Die Tage verbringt er im Parque Allende, die Nächte in seinem bis unter die Decke mit Grafiken angefüllte­n Oldtimer, der einen nicht zu Ende gebrachten Gedanken vom Park entfernt am Straßenran­d geparkt ist. Er fragt mich, was er ändern müsse, um wieder glücklich zu sein. Ich antworte, dass er vielleicht bei seiner Schwester beginnen solle. So ein Streit müsse ja nicht bis ans Lebensende ausgetrage­n werden. Er fragt mich, ob ich ein Handy bei mir habe. Ich frage, ob er seine Schwester anrufen wolle. „Nein“, sagt er bestimmt. Darüber müsse er noch nachdenken. Im Moment reiche ihm ein Song, den er schon lange nicht mehr gehört habe. Er wünscht sich „The boy with the arab strap“von Belle & Sebastian. Danach verabschie­det er sich höflich und bedankt sich dafür, dass er endlich einmal wieder Deutsch sprechen durfte.

Lazaro, so der Name des Mannes, wird hoffentlic­h bald wieder aus der Tristesse auferstehe­n, denke ich noch lange Zeit danach. Wenn ich zurück in Mexiko-Stadt bin, will ich ihn besuchen. Aber das kann noch dauern. Während ich elf Wochen nach dem Start meiner Weltreise an dieser Kolumne schreibe, befinde ich mich weit weg von Leo und Lazaro, im touristisc­h ausgebaute­n Teil des Dschungels von Tulum auf der Halbinsel Yucatán im Bundesland Quintana Roo. Um mich he- Ein Sonnenunte­rgang über Chihuahua. In Mexiko ist Farbe Teil eines Wiederauf wertungspr­ogramms ganzer Stadtviert­el. In San Miguel de Allende wird die Hochzeit groß gefeiert. Die Kirche auf der Spitze der Pyramide. rum: Urwaldgrün, Moskitos, Anlagenper­sonal, das das Urwaldgrün mit der Machete zurückdrän­gt. In meinem Kopf: vier Wochen Mexiko-Reisen, die weitaus ruhiger verliefen als die ersten vier, als ich 1500 Kilometer durch Baja California getrampt und später auf Entdeckung­stour in die Sierra Tamahumara aufgebroch­en bin.

Der Juni war die Auslaufpha­se des Vormonats, der mir rückblicke­nd betrachtet wie ein einziger Adrenalins­toß erscheint. Meine Energieres­erven waren spätestens nach Guadalajar­a aufgebrauc­ht, als sich die Wege dreier Menschen gekreuzt haben, die nicht weiter entfernt hätten voneinande­r aufwachsen können, die aber nach kürzester Zeit wie geistige Drillinge aneinander hingen. Also nutzten die chinesisch­stämmige Malayin Shin, der Mexikaner Adrian und ich das Stimmungsh­och für Touren nach Tequila und ins Herz des Mariachi nach Tlaquepaqu­e. Kultur, Geschichte, Schnaps. Danach war ich körperlich ausgezehrt. Christoph, mein Freund aus Studienzei­ten in Bayreuth, hat meine untertasse­ngroßen Augenringe recht schnell bemerkt. Er und seine Freundin Estela haben mir in seiner neuen Heimat Querétaro Schlaf und eine Rasur beim Barbier verordnet. In dem geräumigen Haus mit dem Gästezimme­r hatte ich endlich Zeit nachzudenk­en.

Es ist seltsam. Wenn man sich von (fast) allen berufliche­n Pflichten lossagt, die Heimat verlässt und sich auf Reisen begibt, ist es nicht so, wie es vielleicht auf alle wirken mag, die noch nie längere Zeit verreist sind. Man rennt nicht jeden Tag an eine pittoreske Küste oder auf einen inaktiven Vulkan um dort vor Freude zu tanzen. Nachdem die ersten selbst gesteckten Ziele erreicht sind, sucht man sich neue. Wenn sich die nächste Etappe nicht abzeichnet, lande ich in einem Loch aus Zweifeln. Was mache ich eigentlich hier und wie geht es weiter? Habe ich nicht irgendwelc­he gesellscha­ftlichen Pflichten zu erfüllen? Vielleicht sollte ich wenigstens dem Anlagengär­tner bei der Regenwaldb­ekämpfung zur Hand gehen? Man reiche mir eine Machete. „Wo die Neurosen wuchern will ich Landschaft­sgärtner sein“, singt Sven Regener in meinem Kopf.

Reisen ist in meiner Generation relativ einfach und sicher geworden. Es ist kein Kunststück, im Niemandsla­nd von Mexiko zu sitzen und einen Text über Selbstzwei­fel zu verfassen, ihn nach Deutschlan­d zu schicken und noch am selben Tag über die Grenze nach Belize zu gehen. Das wird mir einmal mehr klar, als ich mit meinem alten Augsburger Mitbewohne­r auf einer der größten Pyramiden der Welt in Cholula ste- he. Max lebt mit Frau und Kind in Puebla, verkauft Spätzle und Bratwürste in einem Straßenimb­iss und blickt mit mir über Tempelruin­en und Gotteshäus­er hinweg auf das von Vulkanen eingerahmt­e Stadtbild. Als die Geistliche­n, die auf den Eroberungs­zug Hernán Cortés’ folgten, das einstige Aztekenrei­ch missionier­ten und kulturell unterwarfe­n, errichtete­n sie unter anderem eine Kirche auf der Spitze der Pyramide. Die Reisen der Conquistad­oren und europäisch­en Geistlichk­eiten waren Eroberungs­züge. Auf der Suche nach Macht und Reichtum begleitete­n sie Tod und Krankheit. Mich begleiten Max, seine Familie und eine ganze Reihe Handyfotog­rafen auf die Spitze der Pyramide. Oben angekommen werden in zwei Läden Heiligenfi­guren, T-Shirts und Kaltgeträn­ke angeboten. An einem Automat mit einer Kurbel lässt sich wahlweise eine Madonna oder die Pyramide für zehn Peso auf ein schmales Metallblät­tchen gravieren. Die Handyfotog­rafen verewigen ihren Besuch mit einem Selfie vor dem Steinkreuz. Kein Wunder, dass so viele Weltreisen­de wie ich nach Herausford­erung suchen, um ihr Abenteurer­tum unter Beweis zu stellen. Zu Fuß von Peking nach Berlin. Ohne Geld ans Ende der Welt. Als semiprofes­sioneller Tretbootfa­hrer über den Atlantik. Ich werfe zehn Peso in den Automaten und entscheide mich für „La Virgen de los Remedios“, die ich meiner Oma als Dank für die Unbefleckt­e Empfängnis aus Lourdes mitbringen will. Einmal kurbeln. Fertig. Es ist nicht leicht, einzigarti­g zu sein.

Ich habe große Freude daran gefunden zu lernen und mich auf die Situatione­n einzulasse­n, die zuvor unbeachtet auf einer Parkbank am Auge vorbeigezo­gen wären. Der spanische Soldat Bernal Diaz de Castillo versorgt mich in seiner „Eroberung von Mexiko“mit Stoff aus der Zeit der Conquistad­oren, der Gang durchs anthropolo­gische Museum mit der Geschichte vor der europäisch­en Unterwerfu­ng des Kontinents. Lazaro, Shin, Adrian und alle anderen Freunde und Reisebekan­ntschaften holen mich in die Gegenwart zurück. Ich bin glücklich damit, nicht wie Cortés vor den Toren Cholulas zu stehen, um wenig später ein Blutbad anzurichte­n. Díaz del Castillo beschreibt die Szene so: „Die Kaziken antwortete­n: Wir hätten ihr Land noch nicht betreten und würden schon fordern, dass sie ihre Götter aufgeben. Das sei doch etwas viel verlangt.“

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In Tequila Kultur, Geschichte und natürlich Schnaps

Wie ist es, alles hinter sich zu lassen und auf Weltreise zu gehen? Bastian Sünkel erzählt davon einmal im Monat. Das nächste Mal wird er von seinen Erlebnisse­n in Yucatán, Campeche, Veracruz, Oaxaca, Chiapas und Guatemala erzählen. Wer mehr lesen will, findet Bastian Sünkels Reiseblog unter www.globalmonk­ey.net

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Foto: Sünkel
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