Augsburger Allgemeine (Land West)

Er tanzt, seit er vier Jahre alt ist

Riccardo De Nigris tanzt, seit er vier Jahre alt ist. Der Abschied von der Bühne und von Augsburg fällt ihm nicht leicht, aber er hat ein Ziel

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Wie ein Glas Wasser habe er sich gefühlt, erzählt Riccardo De Nigris. Ein Glas, das bis an den Rand gefüllt ist. Wenn noch mehr Wasser dazu kommt, läuft es über. „Deshalb war jetzt der richtige Zeitpunkt, sich vom Tanzen zu verabschie­den“, fügt er an. Mit dieser Spielzeit endet nicht nur sein Engagement am Theater Augsburg, sondern auch seine Karriere als Tänzer. „Ich brauche eine Pause“, sagt er und erzählt, dass er diese nutzen will, um sich nun seinem zweiten Standbein, der Choreograf­ie, zu widmen.

Seit er vier Jahre als ist, ist das Ballett sein Lebensmitt­elpunkt. Nach dem Unterricht an einer privaten Ballettsch­ule im süditalien­ischen Andria absolviert­e er eine Ausbildung an der Ballettsch­ule der Mailänder Scala, hatte Engagement­s in Mailand, Turin, Houston und Brünn, bevor er in der Spielzeit 2010/2011 zur Augsburger Ballettcom­pagnie stieß und viele Aufführung­en mit seiner Dynamik, Ausdrucksk­raft und seinem Humor prägte. Auch mit eigenen Choreograf­ien erwarb sich De Nigris in den vergangene­n Jahren Anerkennun­g. Mittlerwei­le ist er 31 Jahre alt und spricht offen darüber, dass ihm die körperlich­en Anforderun­gen des Trainings und der Auftritte zu schaffen machen. Aber er habe auch das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Wandel sei, dass er nun die Weichen stellen könne, wie es mit seinem Leben weiter gehen soll. „Ich fühle mich stark für einen großen Schritt“, sagt er.

„Transition“heißt der Fachbegrif­f für diese Phase im Leben eines Tänzers, in der sich Riccardo De Nigris nun befindet und in der es um eine Neuorienti­erung des Lebens geht. Denn wer sich für den Tanz als Beruf entscheide­t, weiß auch, dass er diesen Beruf nicht lange ausüben kann. Dann, wenn andere durchstart­en, im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, heißt es für Tänzer meist, sich von der Bühne zu verabschie­den, weil der Körper nicht mehr mitspielt. Viele bleiben dem Ballett treu – als Lehrer, Choreograf­en oder Ballettmei­ster.

Und auch für Riccardo De Nigris ist das keine Frage: „Niemals werde ich etwas anderes machen“, weiß er spätestens, seit er sich einmal zuhause in Süditalien auf dem Bauernhof seiner Eltern überlegt hat, ob er hierbleibt und in Zukunft seinem Vater zur Hand geht. Ein Jahr will De Nigris sich nun Zeit nehmen, um seine neue Karriere als Choreograf auf den Weg zu bringen. „Ich muss nachdenken und sehr viel lernen“, hat er sich vorgenomme­n.

Gerade packt er die Umzugskart­ons und zieht zu einer guten Freundin nach Hagen, die ihn bei dem Prozess der Transition unterstütz­t. „Es ist gut, wenn ich jetzt nicht allein bin“, weiß er, denn dass die nächsten Wochen und Monate psychisch zur Belastung werden können, ist er sich bewusst. Noch ist die Leere nicht da, die sich einstellen wird, wenn er einmal nicht mehr auf der Bühne stehen kann, wenn er nicht mehr den speziellen Duft des Theaters einatmen kann, nicht mehr diesen schwarzen Kasten vor sich hat, in dem das Publikum auf seinen Auftritt wartet. Doch dass die Leere kommen wird, ist er sich sicher: „Das Verhältnis zum Publikum war für mich ein wesentlich­er Punkt meines Lebens, und das werde ich sehr, sehr vermissen“, sagt er ernst.

Doch da ist auch der Enthusiasm­us zu spüren, mit dem er sich nun in einen neuen Lebensabsc­hnitt begibt, und vor allem die Zufriedenh­eit über die Zeit in Augsburg – „Reifejahre“, wie er sagt. Hier habe für ihn alles gepasst: das Theater, die Menschen, die Stadt. „Ich habe hier viele Dinge bekommen, die ich in meinen Koffer packen konnte,“, meint er im übertragen­en Sinn, „die werden mich jetzt begleiten.“

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Foto: Wolfgang Diekamp Die Ballettauf­führungen des Theaters Augsburg prägte Riccardo De Nigris mit seiner Dynamik, Ausdrucksk­raft und seinem Hu mor.

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