Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein vorweggenommenes Endspiel
In Kasan stehen sich ein Top- und ein Geheimfavorit gegenüber. Brasilien mit der besten Defensive und Belgien mit dem erfolgreichsten Angriff des Turniers. Die einen wollen den sechsten Titel, die anderen den ersten
Kasan Nur kurz hat die Tatarenstadt Kasan einmal durchschnaufen können. Zwei, drei Tage hatten die Sonnenanbeter und Tretbootfahrer den Kaban-See mit seiner mondänen Wasserfontäne wieder für sich, gehörte die Fußgängerzone bis zum Kasaner Kreml den Flaneuren und Stöckelschuhträgerinnen. Doch längst ist die Metropole mit Männern geflutet, die zu ihren gelben Trikots gerne noch Papierketten oder Filzhüte tragen. Ihre selbst komponierten Melodien verursachen jedes Mal einen Menschenauflauf, den dutzende Einheimische filmen. Auch wenn die Anhänger der Seleçao nur höhnisch besingen, dass Lionel Messi und die verhassten Argentinier schon zu Hause sind.
Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass mit dem Viertelfinale gegen Belgien (20 Uhr/ eigentlich noch nicht viel erreicht ist. Gemessen am ewigen „Hexa“-Anspruch auf den sechsten WM-Titel. Doch auch die Belgier sehen Kasan nur als Durchgangsstation, um über ein Halbfinale in St. Petersburg bis nach Moskau ins Finale zu kommen. Drei Spiele mehr lautet die von den Roten Teufeln herausgegebene Losung.
An der Mündung der Kasanka treffen gewiss zwei Titelanwärter aufeinander. Für viele ist es fast ein vorweggenommenes Finale. Die Brasilianer stellen zusammen mit Uruguay die beste Defensive (ein Gegentor), die Belgier die beste Offensive (zwölf Tore). „Sie haben Power, sie haben Qualität: Es kann ein großes, wunderbares Spiel werden“, hat Brasiliens Nationaltrainer Tite gestern über Belgien gesagt.
Im Pressekonferenzraum der Kasan-Arena kauerten Journalisten auf den roten Treppenstufen, um dem 57-Jährigen zu lauschen, der einmal den übervollen Saal zum Lachen brachte, als der „Professor“, wie sich Tite mehrfach nannte, zum besonderen Druck seiner ersten WM äußern sollte. Der Familienvater ging zurück zum ersten WM-Spiel gegen die Schweiz (1:1). Für ihn sei es wie „primeira vez“gewesen, das erste Mal, „sie wissen schon“. Solch einen Scherz kann sich nur einer leisten, der mitunter wie ein Großvater auftritt. Aber ist er nicht auch Ersatzvater für viele Spieler? Sechs Stammkräfte wie Thiago Silva, Paulinho oder Marcelo sollen ohne ihren Vater aufgewachsen sein, hat die Zeitung El Pais recherchiert.
Tite erzählte noch von einer Unterredung, die er mit dem argentinischen Vereinstrainer Carlos Bianchi geführt und an seine Spieler weitergegeben habe, dass die mentale Stärke jetzt entscheidend sei. „Wir dürfen keine Angst vorm Verlieren haben.“Dass sein Wellenbrecher Casemiro gesperrt fehlt – ersetzt durch Fernandinho – ist keine Ausrede, zumal Linksverteidiger Marcelo wieder dabei ist. Und das Gewese um den Schauspieler Neymar? Tite dimmte die aus seiner Sicht überspannte Thematik herunter, indem er lieber auf die Laufwege der Reizfigur in der Rückwärtsbewegung einging, denn: „Teamgeist ist die beste Tugend.“Kein Wort musste der brasilianische Coach erstaunlicherweise über den ja auch als einende Figur geltenden Kollegen Roberto Martinez verlieren. Das Aufeinandertreffen zwischen dem Zweiten und Dritten der Fifa-Welt- rangliste gilt als Begegnung zweier Fußballlehrer mit besonderer Gabe. Jeder mit einem engen Draht zu den Protagonisten. Der gebürtige Spanier Martinez hat Bemerkenswertes vollbracht, indem der Nachfolger des umstrittenen Marc Wilmots nicht gleich alles über Bord warf. Der 44-Jährige spürte schnell, den unter dem ehemaligen Bundesligaspieler vorbildlich vorangetriebenen Einigungsprozess zwischen Flamen und Wallonen besser nicht zu gefährden. Martinez spricht Englisch mit seinem Team, zumal Stützen wie Eden Hazard, Romel Lukaku, Kevin De Bruyne, Jan Vertonghen oder Thibaut Courtois ohnehin in der Premier League spielen. Viele seiner Spieler stehen in voller Blüte. Niemand erzeugt im Vorwärtsgang mehr Wucht als diese Gemeinschaft in den blutroten Jerseys, die Martinez mit seiner taktischen Expertise hinter sich weiß. Er selbst muss über die Bedeutung eines WM-Viertelfinals gegen Brasilien ohnehin nicht mehr viel sagen. In der Geschichte des belgischen Fußballs gab es eigentlich nur ein größeres Spiel: das verlorene WM-Halbfinale 1986 gegen Argentinien, das zwei Geistesblitze von Diego Maradona entschieden haben.
● Brasilien – Belgien
Freitag, 20 Uhr, ZDF