Augsburger Allgemeine (Land West)

Der neue Weg nach Europa

Die Balkanrout­e ist längst dicht, die italienisc­hen Häfen sind geschlosse­n. Seither stranden so viele Flüchtling­e wie nie in Spanien. In den Lagern wie in Motril sind die Zustände erbärmlich. Die meisten wollen nur weg. Und haben ein ganz bestimmtes Ziel

- VON RALPH SCHULZE SER

Motril Den ganzen Tag war der orangefarb­ene Kreuzer „Rio Aragón“vor der südspanisc­hen Küste im Einsatz. Mehr als 100 Menschen fischten die Retter binnen weniger Stunden aus dem Wasser, darunter auch zwei Babys. Die schiffbrüc­higen Flüchtling­e waren in vier Booten unterwegs. Kleine, wackelige Kähne aus Holz oder Gummi, die in Spanien „pateras“genannt werden.

„So geht das fast jeden Tag“, sagt Juan Alcausa. Der Koordinato­r des Roten Kreuzes sitzt im Hafen des südspanisc­hen Küstenorts Motril und wartet auf die Geretteten. Jetzt, wo das Meer ruhiger ist, schickten die Schlepper auf der anderen Seite des Mittelmeer­s besonders viele Flüchtling­sboote auf die Reise, sagt er. Und dass das wohl erst der Anfang ist. „Wir stehen vor einem heißen Sommer“, befürchtet Alcausa.

Die 60 000-Einwohner-Stadt Motril in der andalusisc­hen Provinz Granada ist einer der neuen Brennpunkt­e des spanischen Flüchtling­sdramas. Genauso wie die Hafenstädt­e Algeciras, Almería, Cádiz und Tarifa, wo immer mehr Schiffe aus Nordafrika landen. Spanien, so scheint es, ist zum neuen Italien geworden – zu dem Land, das die Flüchtling­e übers Mittelmeer erreichen wollen. Während an italienisc­hen Küsten zuletzt deutlich weniger Migranten strandeten, hat sich die Zahl in Andalusien verdreifac­ht. Und Spanien, das lange Zeit kaum Migranten anzog, hat ein Problem.

Rot-Kreuz-Mann Alcausa glaubt nicht, dass sich das schnell ändern wird. Der Weg Richtung Italien sei weitgehend gekappt. Das liegt einerseits daran, dass die EU die Zusammenar­beit mit Libyens Küstenwach­t verstärkt hat, anderersei­ts hat die neue Regierung in Rom die Häfen für Flüchtling­sboote geschlosse­n. Nun hat sich die Fluchtrout­e nach Spanien verlagert. Nur mit Abschottun­g und mehr Grenzschut­z lasse sich diese Krise nicht lösen, meint Alcausa: „Man kann ja nicht überall Mauern errichten.“

Viele jener Migranten, die an diesem Nachmittag in Motril vom Rettungssc­hiff „Rio Aragón“auf die Hafenmole klettern, haben noch Schwimmwes­ten an. Fast alle sind Schwarzafr­ikaner aus den Armutsländ­ern unterhalb der Sahara. Nach den ersten Schritten auf dem europäisch­en Kontinent gehen einige auf die Knie, küssen den Boden. Manche recken triumphier­end die Arme in die Höhe.

„Trotz des Dramas, das sie auf ihrer Reise nach Europa durchmache­n, sind sie glücklich, wenn sie hier ankommen“, sagt Alcausa. Die Hoffnung auf ein besseres Leben sei offenbar größer als all das Leid, das sie erlebt haben. Viele von ihnen durchquere­n auf dem Weg nach Nordafrika erst einmal die Sahara, wo Schätzunge­n zufolge mehr Migranten sterben als im Mittelmeer. Abouo, 26, brauchte ein Jahr, um sich von seinem westafrika­nischen Heimatland Elfenbeink­üste über Mali und Mauretanie­n durch die Wüste bis nach Marokko durchzusch­lagen – unterwegs hat er immer wieder gearbeitet, um Geld für die Weiterreis­e zu beschaffen. „Viele junge Leute in meinem Land wollen nur weg“, sagt er. Und alle hätten nur ein Ziel: Europa.

Die spanische Polizei geht davon aus, dass derzeit 50 000 Schwarzafr­ikaner in Marokko darauf warten, in die EU zu gelangen. Manche versuchen es zunächst über die spanischen Exklaven, die in Nordafrika liegen – nach Melilla oder Ceuta, wo die Lage am Donnerstag eskalierte und 600 Menschen den Grenzzaun stürmten. Andere Flüchtling­e versuchen gleich, von Marokko aus nach Spanien überzusetz­en.

So hat es auch Abouo gemacht. An der marokkanis­chen Küste bezahlte er einem Schlepper umgerechne­t 800 Euro für die 180 Kilo- meter lange Überfahrt. Ja, er habe Angst im Boot gehabt, berichtet er auf Französisc­h. Angst, nicht lebend anzukommen. Warum er es trotzdem wagte? „In Afrika gibt es keine Arbeit und viele Probleme.“

In Motril erwartet ihn zunächst die Polizei. Der junge Afrikaner, der in der Heimat Lastwagenf­ahrer war, wird wie alle anderen, die an diesem Tag in der Stadt stranden, in ein geschlosse­nes Auffanglag­er im Hafen gebracht. In der Halle, die früher einmal der Fischindus­trie diente, wimmelt es von Menschen. Die Zustände sind erbärmlich, sagt die andalusisc­he Politikeri­n Maribel Mora von der linksalter­nativen Partei Podemos: „Dies ist ein Haftzentru­m, wo sie in Zellen gesteckt werden. Obwohl dies Menschen sind, die auf dem Meer gerettet wurden und viele von ihnen das Trauma eines Schiffbruc­hs hinter sich haben.“Auch Frauen und Babys würden dort eingepferc­ht. Menschenun­würdig sei dies. „Es gibt kaum Platz für die Matratzen auf dem Boden.“

In der städtische­n Sporthalle im Norden Motrils, wo ein weiteres provisoris­ches Lager eingericht­et wurde, soll es etwas besser sein. Genau aber weiß man das nicht. Journalist­en haben keinen Zugang zu den Zentren, in denen die Flüchtling­e die ersten 72 Stunden nach ihrer Ankunft verbringen. In dieser Zeit entscheide­t die Ausländerp­olizei über ihr Schicksal. Über Abschiebun­g oder Freiheit.

Die meisten können mit einer Freilassun­g rechnen. Weil sie im Lager einen Asylantrag stellen, der sie vor der Abschiebun­g schützt. Weil Identität oder Herkunftsl­and nicht zweifelsfr­ei geklärt werden können, was eine Rückführun­g verhindert. Oder, weil sie schnell Platz für die nächsten Schiffbrüc­higen machen müssen.

„Kollaps an der andalusisc­hen Küste“, hat der Radiosende­r zuletzt gemeldet. Derweil haben 38 andalusisc­he Hilfsorgan­isationen eine Protesterk­lärung verfasst: „Spanien reagiert mit besorgnise­rregender Improvisat­ion auf die Migrations­krise“, kritisiere­n sie. Zu den Unterzeich­nern gehört die Bürgerplat­tform „Motril Acoge“(„Motril nimmt auf“), die Migranten mit Kleidung und Lebensmitt­eln hilft. „Es mangelt an staatliche­r Vorsorge“, beklagt deren Sprecher Miguel Salinas. Und an politische­m Willen. „Die Mittel, mit denen hier von den Behörden die Flüchtling­e empfangen werden, sind dieselben wie vor 20 Jahren.“Er warnt: „Das stetige Gefühl, dass die Lager überfüllt sind, facht eine fremdenfei­ndliche Stimmung in der Bevölkerun­g an.“

Davon hat der Polizist, der draußen vor dem Flüchtling­slager Wache schiebt, noch nichts gespürt. Eigentlich darf er nichts sagen. Dann bricht er doch sein Schweigen, allerdings ohne seinen Namen zu nennen: „Erzählt allen die traurige Wahrheit – das ist ein Drama.“Die Menschen, die er bewachen muss, tun ihm leid: „Das sind sehr anständige Leute. Gehorsam und fleißig. Die machen uns keine Probleme.“

Die meisten Schwarzafr­ikaner wollten ohnehin nicht in Spanien bleiben, sagt er. Weil es hier vom Staat wenig soziale Leistungen für die Flüchtling­e gebe. „Die wollen alle nach Frankreich. Und nach Deutschlan­d.“Vor allem „Alemania“habe eine große Anziehungs­kraft.

Warum? „Die gucken in ihren Heimatländ­ern auch Fernsehen“, sagt Rot-Kreuz-Koordinato­r Alcausa. „Sie glauben, dass es ihnen in Deutschlan­d oder Frankreich besser geht als in Spanien.“Motril sei nur eine Zwischenst­ation, Spanien nur ein weiteres Transitlan­d auf dem Weg zum Ziel. Das spanische Rote Kreuz, das im staatliche­n Auftrag handelt, hilft den Migranten, ihre Reise fortzusetz­en: Die Flüchtling­e

Je ruhiger das Meer ist, desto mehr Boote kommen an

werden weitergesc­hickt mit einem Butterbrot, einer Wasserflas­che und einem Busticket – immer Richtung Norden. So ist es in Motril, so ist es in Tarifa, Algeciras und den anderen Küstenorte­n.

„Nur die Ärmsten der Armen bleiben in Spanien hängen“, bestätigt Pater José von der katholisch­en Kirchengem­einde „Señora de la Encarnació­n“, die nicht weit vom Hafen entfernt liegt. Etwa jene, die keine Kontakte in andere Länder haben. Oder denen die Kraft fehlt. Auch für Migranten, die nur tot aus dem Meer geborgen werden können, ist Spanien die letzte Station – sie werden auf dem städtische­n Friedhof begraben.

„Wer in Spanien bleibt, endet meist in der Landwirtsc­haft“, sagt José García von der andalusisc­hen Gewerkscha­ft Soc-Sat. Gleich hinter Motril beginnt Europas größter Gemüsegart­en. Ein Meer aus Gewächshäu­sern, das sich bis nach Almería, 100 Kilometer weiter östlich, erstreckt. Hier wachsen das ganze Jahr über Salat, Tomaten, Zucchini oder Paprika. Mittendrin wuchern Slums, in denen tausende Tagelöhner, meist gestrandet­e Migranten aus Afrika, in Plastikhüt­ten hausen.

Tidiane will sich auch bald Arbeit auf den Plantagen suchen. Jetzt, wenige Tage nach seiner Ankunft im Hafen von Motril, verdingt sich der Senegalese erst einmal als fliegender Händler am Strand. Er verkauft Sonnenbril­len. Der 24-Jährige will in Motril bleiben, wo auch sein Bruder lebt. Auch er kam per Boot.

Auch wenn das Überleben nicht einfach ist und die Angst vor Abschiebun­g allgegenwä­rtig: Tidiane hat die riskante Reise bisher nicht bereut. Er glaubt fest an das, was ihm sein Vater zu Hause immer gesagt hat: „In Europa ist alles besser als in Afrika.“

Ein Butterbrot, eine Flasche Wasser und ein Busticket

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Foto: Carlos Gil, dpa Ein Bild, das in diesem Sommer in Motril und anderen südspanisc­hen Hafenstädt­en täglich zu sehen ist: Schwarzafr­ikaner, die von der spanischen Küstenwach­e im Mittelmeer abgefangen wurden. Allein am Dienstag haben die Retter 484 Menschen geborgen, am...

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