Augsburger Allgemeine (Land West)

Den letzten NS Verbrecher­n auf der Spur

Der Staatsanwa­lt Jens Rommel bringt Menschen vor Gericht, die sich der Beihilfe an den Massenmord­en in der Zeit des Nationalso­zialismus schuldig gemacht haben. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und eine Arbeit, die ins Mark trifft

- VON FELICITAS LACHMAYR

Ludwigsbur­g Adolf Eichmann. Der Name steht ganz oben auf dem gelben Karteikärt­chen. Darunter Stichwörte­r in Schreibmas­chinenschr­ift: „Obersturmb­annführer, SS, Judenangel­egenheiten.“Staatsanwa­lt Jens Rommel überfliegt das Kärtchen und deutet auf die Buchstaben RHSA. „Das müsste RSHA heißen. Reichssich­erheitshau­ptamt. Solche Tippfehler finden wir immer wieder“, sagt der 45-Jährige. Die Karteikart­en dokumentie­ren die Jagd nach dem Mann, der für die Ermordung von sechs Millionen Menschen mitverantw­ortlich war, der in Argentinie­n untertauch­te und erst 1961 für seine Verbrechen zum Tode verurteilt wurde. In Israel. Auch das ist auf einem der Zettel vermerkt.

Vor 60 Jahren wurde die Zentrale Stelle der Landesjust­izverwaltu­ngen zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen gegründet, um Ermittlung­en gegen jene aufzunehme­n, die sich an NS-Verbrechen schuldig gemacht haben. Abgeschlos­sen ist die Arbeit bis heute nicht. Im Keller der Behörde lagern 1,7 Millionen Karteikart­en. Sorgfältig sortiert nach Namen von Tätern, Verdächtig­en oder Zeugen, Einheiten und Tatorten. Sie zeugen von den Verbrechen, die die Deutschen während des Zweiten Weltkriege­s begangen haben. In meterlange­n Metallschr­änken stapeln sich die Unterlagen. „Wenn man ein Kärtchen falsch einsortier­t, findet man es kaum wieder“, sagt Rommel und steckt mit prüfendem Blick den Fall Eichmann in die Schublade.

Seit drei Jahren leitet der badenwürtt­embergisch­e Jurist die Zentrale Stelle in Ludwigsbur­g. Sein Auftrag: Nazi-Verbrechen nachweisen und mutmaßlich­e Täter aufspüren. „Ein Puzzlespie­l, bei dem wir weltweit versuchen, die Teile zusammenzu­suchen“, sagt Rommel. Der 45-Jährige hat in Augsburg Jura studiert, bei der Bundesanwa­ltschaft gearbeitet und als Staatsanwa­lt in seinem Wohnort Ravensburg ermittelt, bevor er zur Zentralste­lle kam.

Mit sieben Kollegen durchforst­et er Archive und arbeitet mit Gedenkstät­ten, Suchdienst­en und privaten Einrichtun­gen zusammen, um Beweise zu sammeln und Täter zu ermitteln. „Nach 70 Jahren sollte es auf einen Tag nicht ankommen, trotzdem läuft uns die Zeit davon“, sagt Rommel, der mit dem NaziGenera­l Erwin Rommel nicht verwandt ist. Die meisten Beteiligte­n sind bereits tot oder verhandlun­gsunfähig. Trotzdem werden die Er- immer wieder fündig. Vier Männer aus Mannheim, Münster und Frankfurt sind derzeit wegen Beihilfe zum massenhaft­en Mord an Juden angeklagt. Sie waren als Wachmänner in den Konzentrat­ionslagern Auschwitz, Stutthof und Majdanek eingesetzt. Vermutlich haben sie die Schreie aus den Gaskammern gehört, an der Transportr­ampe gestanden, Kleiderber­ge bewacht oder gesehen, wie tausende Menschen gefoltert, vergast und erschossen wurden. Ob sie sich vor Gericht verantwort­en müssen, ist unklar. Die damals jungen Männer sind zwischen 93 und 96 Jahre alt. Das Gericht prüft, ob sie in der Lage sind, am Prozess teilzunehm­en.

„Wenn man sieht, wer in den vergangene­n Jahren davongekom­men ist, kann es unfair erscheinen, dass wir uns heute an den ganz Unteren abarbeiten“, sagt Rommel. Fast täglich bekommt er die Frage zu hören, warum man die alten Menschen noch vor Gericht zerrt. Für Rommel stellt sie sich nicht: „Der deutsche Staat hat die politische und moralische Verantwort­ung, sich mit seiner Justiz den nationalso­zialistisc­hen Verbrechen als Staatsverb­rechen anzunehmen.“Es gilt der juristisch­e Grundsatz: Mord verjährt nicht. „Der heutige Ansatz, dass auch der Kleine in der Hierarchie seinen Anteil an der Verantwort­ung überneh- men muss, ist richtig.“Vergangene Verfahren hätten gezeigt, dass es für Überlebend­e und Angehörige wichtig ist, in einem Prozess zu Wort zu kommen.

Rommel wirkt ruhig und entschloss­en, wenn er von seiner Arbeit spricht. Seine Entscheidu­ng, die Leitung der Zentralste­lle zu übernehmen, war wohlüberle­gt. Die geringen Erfolgsaus­sichten, die tägliche Auseinande­rsetzung mit den grausamen Verbrechen, die Identifika­tion mit dem Thema nach außen – das hatte ihm zu denken gegeben. Trotzdem entschied er sich dafür. „Es ist eine letztmalig­e Gelegenhei­t, nicht aus historisch­er Neugier draufzusch­auen, sondern als Jurist mit dem Handwerksz­eug eines Staatsanwa­lts.“Jedes Jahr leitet Rommel etwa 30 Verfahren an die Staatsanwa­ltschaften weiter. Die Zentralste­lle führt die Vorermittl­ungen. Sie hat nicht die Befugnis, eine Wohnung zu durchsuche­n oder über eine Anklage zu entscheide­n. „Das System, das man sich 1958 ausgedacht hat, ist weit entfernt von einer idealen Lösung“, findet Rommel. Es kostet Zeit, die wenigsten Staatsanwä­lte haben Erfahrung mit NS-Verbremitt­ler chen und manchmal weichen die Auffassung­en voneinande­r ab. Die wenigsten Fälle landen vor Gericht. Nur fünf von 30 Beschuldig­ten, gegen die Rommel wegen ihres Dienstes in Auschwitz ermittelte, wurde der Prozess gemacht. Alle anderen sind gestorben oder waren verhandlun­gsunfähig. „Es kann frustriere­nd sein, wenn man sieht, wie begrenzt die Möglichkei­ten des Strafrecht­s sind, diesen Massenverb­rechen und den Opfern gerecht zu werden“, sagt Rommel. Opfer würden oft nur als Zahl auftauchen. „Da kommen wir nicht so weit, wie es die Aufarbeitu­ng erfordert.“

Rommel schlägt eine graue Mappe auf. Neben ihm ragen Regale voller Akten in die Höhe. 550000 sind es insgesamt. In der Dokumenten­sammlung riecht es muffig nach altem Papier. Findet Rommel in den Karteikart­en einen verdächtig­en Namen, kommt er hierher, um mögliche Akten zu dieser Person zu sichten. Oft wird er fündig. Denn seit sich die Rechtslage geändert hat, prüft er Personen, die seit Jahren verzeichne­t sind, aber früher nicht behelligt wurden. „In den letzten Jahren hat sich juristisch die Erkenntnis durchgeset­zt, dass die Tötungsmas­chinerie nur funktionie­rt hat, weil so viele mitgemacht haben“, sagt Rommel. Beihilfe zum Mord könne auch darin bestehen, seinen Dienst in einer Einheit zu erfüllen, in der systematis­ch Menschen getötet werden. Seit den Auschwitzp­rozessen herrschte die Auffassung, einen konkreten Tatnachwei­s liefern zu müssen. Das änderte sich erst mit dem Prozess gegen den früheren SS-Wachmann in Sobibor, John Demjanjuk, 2011 und der Verurteilu­ng von Oskar Gröning, dem „Buchhalter von Auschwitz“2015. Warum es so lange gedauert hat? Darauf hat Rommel ausnahmswe­ise keine klare Antwort. Man könne es nicht allein damit erklären, dass in den fünfziger und sechziger Jahren viele Personen bei Polizei, Justiz oder den Nachrichte­ndiensten wieder eingestell­t wurden. Denn spätestens in den 90er Jahren seien keine Alt-Nazis mehr im Staatsdien­st gewesen, die die Aufklärung hätten verhindern können. Trotzdem wurde nur jeder zehnte Beschuldig­te angeklagt. Von 175000 wurden nicht mal 7000 Täter verurteilt. Von seinem Vorgänger weiß Rommel, dass keiner der Angeklagte­n die Taten einräumte oder gar Reue zeigte.

Manchmal hat Rommel Listen in der Hand. Zeile für Zeile werden die Getöteten aufgeliste­t. Am Ende steht eine Zahl: 40 000. „In solchen Momenten wird mir wieder bewusst, dass sich hinter jeder Ziffer ein einzelner Mensch, ein einzelnes Schicksal verbirgt. Dann ist es

Die Zentralste­lle sucht weltweit nach Tätern

Oft hört er die Frage, warum er Greise vor Gericht zerre

Die Opfer tauchen oft nur als Zahlen auf

schwierig, damit umzugehen.“Auch den Moment, als er das Konzentrat­ionslager Auschwitz betrat, um sich ein Bild zu machen, wird er nie vergessen. Der Schriftzug „Arbeit macht frei“, die schwarze Wand für die Erschießun­gen im Innenhof, das Tor in Richtung Birkenau, die Rampe, die Gaskammern. „Es hat etwas Unwirklich­es, diesen Ort in Farbe und mit Vogelgezwi­tscher im Hintergrun­d zu sehen.“

Die Zahl der Täter, die für die Verbrechen zur Verantwort­ung gezogen werden können, sinkt. Doch solange die Möglichkei­t besteht, sucht Rommel weiter. Aber wie gehen wir mit der Erinnerung um, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind? Schaffen wir es als Gesellscha­ft, die Bedeutung für die Gegenwart aufrechtzu­erhalten? Rommel stellt sich diese Fragen. Die Stimmung in Deutschlan­d habe sich in den letzten Jahren geändert. „Wenn man eines aus der Geschichte lernen kann, ist es, dass man wachsam bleiben muss.“

OTag des offenen Denkmals Wer Interesse hat, kann die Zentralste­lle in der Schorndorf­er Straße 58 in Ludwigs burg am Sonntag, 9. September, von 11 bis 17 Uhr selbst besuchen.

 ?? Foto: Marijan Murat,dpa ?? Jens Rommel ist Chef der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen in Ludwigsbur­g. Jedes Jahr leitet er etwa 30 Verfahren an die Staatsanwa­ltschaften weiter. Doch die wenigsten landen vor Gericht.
Foto: Marijan Murat,dpa Jens Rommel ist Chef der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen in Ludwigsbur­g. Jedes Jahr leitet er etwa 30 Verfahren an die Staatsanwa­ltschaften weiter. Doch die wenigsten landen vor Gericht.

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