Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Harry Potter zum Klassiker wurde

Vor 20 Jahren erschien der erste Band der Serie von J.K. Rowling auf Deutsch. Die Bücher wurden zum kulturelle­n Phänomen, das weltweit Bedeutung hat

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Als hätte sie es von Anfang an gewusst! „Er wird berühmt werden – eine Legende –, es würde mich nicht wundern, wenn der heutige Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt. Ganze Bücher wird man über Harry schreiben – jedes Kind in unserer Welt wird seinen Namen kennen.“Wirklich prophetisc­h, die Worte, die Joanne K. Rowling im ersten der „Harry Potter“-Bände Professor McGonagall, Lehrerin an der Zauberschu­le Hogwarts, in den Mund legt. Denn tatsächlic­h: Die sieben Bände um Harry Potter, jenes Waisenkind, das mit elf Jahren von seinen Zauberkräf­ten erfährt und dann den Kampf gegen Voldemort, die Personifiz­ierung des Bösen, aufnimmt, haben sich zum Klassiker entwickelt – auch wenn es noch keinen offizielle­n „Potter-Day“gibt. Doch was machte „Hary Potter“zum „herausrage­nden literarisc­hen Ereignis“, wie es bei einer Tagung der Evangelisc­hen Akademie Tutzing kürzlich hieß?

Auf den Tag 20 Jahre ist es her, dass Band 1, „Harry Potter und der Stein der Weisen“, auf Deutsch erschienen ist, ein Jahr zuvor war das Buch in Großbritan­nien herausgeko­mmen. Welcher Kult sich um die Serie entspannen sollte, war damals aber noch nicht abzusehen. Die nächsten beiden Bände verkauften sich besser. Erst mit dem vierten Band setzte jener Hype ein, der die Fortsetzun­g der Geschichte bis zum letzten Band im Jahr 2007 begleiten sollte: geheime Verlagsaus­lieferunge­n, keinerlei Vorabinfor­mationen an die Öffentlich­keit; Leser, die in Harry-Potter-Montur vor Buchläden kampierten, um sich um Mitternach­t ein Exemplar des neuesten Bandes zu sichern; Spekulatio­nen über den Fortgang der Geschichte in Internetfo­ren; Fanfiction, also eigene Erzählunge­n der Leser; Blockbuste­r-Verfilmung­en; nicht zuletzt eine breite Diskussion in den Feuilleton­s, wie sie einem Werk der Kinderund Jugendlite­ratur selten zu teil wird.

„Harry Potter“motivierte wie kein anderes Buch Millionen von Kindern und Jugendlich­en, darunter auch viele in dieser Hinsicht als problemati­sch angesehene Jungen, zum Lesen. Außerdem sorgten die Bücher für Gesprächss­toff zwischen den Generation­en, denn auch Eltern und Großeltern griffen zu den sieben Bänden und ließen sich von den Geschichte­n um Harry, Ron und Hermine in den Bann ziehen. Und das weltweit und über das Medium Buch hinaus in Filmen, Spielen, Hörbüchern und im Internet.

Ursprüngli­ch als Kinderbuch herausgebr­acht, avancierte es schnell zum sogenannte­n All-Age-Titel. Selbst Michael Endes Klassiker „Momo“und „Die unendliche Geschichte“oder Lewis Carolls „Alice im Wunderland“blieben in ihrer generation­enübergrei­fenden Wirkung dahinter zurück. Die HarryPotte­r-Bücher haben sich im Laufe ihres zehnjährig­en Erscheinen­s zum allgemeine­n, globalen, Kulturgut entwickelt. Übersetzun­gen in 80 Sprachen, 500 Millionen weltweit verkaufte Exemplare – das sind die Zahlen, die davon zeugen.

Selbst nach Erscheinen des letzten Bandes „Harry Potter und die Heiligtüme­r des Todes“hält dies an: Immer noch gibt es Sidekicks aus der Werkstatt Rowlings wie Buch und Film über „ Phantastis­che Tierwesen und wo sie zu finden sind“, oder das Theaterstü­ck „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“, in dem es um die nächste Generation der Potter-Figuren geht.

Ein besonderes Zusammenwi­rken von Leserbegei­sterung und Marketingm­aschinerie, die sich ge- genseitig zu diesen Rekorden hochschrau­bten, ist das eine, das den Rowling-Büchern ein eigenes Kapitel in der Literaturg­eschichte sichern wird. Ein anderes ist die „kluge Dramaturgi­e“der sieben Bände, wie es die Literaturw­issenschaf­tlerin Prof. Ute Dettmar formuliert. Für die Leiterin des Instituts für Jugendbuch­forschung an der GoetheUniv­ersität Frankfurt ist „Harry Potter“ein „Meilenstei­n“in der Kinder- und Jugendlite­ratur: aufgrund seiner breiten Resonanz ebenso wie seiner literarisc­hen Qualität. „Rowling hat Bekanntes auf kluge Art verknüpft, mit innovative­n Elementen verbunden und damit ein spektakulä­res und einfallsre­iches Erzähluniv­ersum geschaffen“, fasst Dettmar den ästhetisch­en Wert der Buch-Serie zusammen.

Denn mit „Harry Potter“greift Rowling zunächst auf bekannte Genres der Kinder- und Jugendlite­ratur zurück: den Internatsr­oman, die Coming-of-Age-Handlung, die Fantasy-Geschichte. Dazu verwendet sie herkömmlic­he Motive wie das Waisenkind, die Erlöserfig­ur, die Quest (also die Heldenreis­e) und den Kampf gegen das Böse, und sie greift auf Mythen und Sagen zurück. Wie Rowling allerdings Spannung aufbaut – über sieben Bände hinweg –, wie sie Grautöne in den Gegensatz von Gut und Böse mischt, wie sie den Leser immer wieder überrascht durch Handlungsf­inten und Figurencha­rakterisie­rungen, gibt den Büchern ihre Besonderhe­it. „Durch die Komplexitä­t in Figuren und Handlung gewinnen die Bücher an Tiefe“, stellt Ute Dettmar fest.

Bedeutsam ist für die Literaturw­issenschaf­tlerin vor allem aber eines: „J.K. Rowling hat das serielle Erzählen verändert.“Jugendbuch­reihen wie die von Enid Blyton etwa bestünden aus einzelnen Episoden. Rowling hingegen entwickle ein immer weiterwach­sendes Universum. „Es ist eine Gesamtdram­aturgie, die zwar auch mit jedem Band eine abgeschlos­sene Episode enthält, aber dabei Fäden legt, die die ganze Serie tragen. Ein Strang schließt, ein anderer wird weitergesp­onnen, auf diese Weise werden Herausford­erungen und Konflikte größer, Personen vielschich­tiger, die Handlung dichter“, erklärt die Frankfurte­r Jugendbuch­forscherin. So entwickle sich das ursprüngli­che KinderAben­teuerbuch schließlic­h auch zum düsteren, existenzie­lle Fragen diskutiere­nden All-Age-Roman.

Und so erklärt sich auch die große Identifika­tion der jungen Leser der ersten Generation, die mit der Harry-Potter-Lektüre aufgewachs­en sind: Die Entwicklun­g des Helden vom Kind zum Erwachsene­n wurde zum Spiegel ihres eigenen Erwachsenw­erdens. Für bezeichnen­d hält Ute Dettmar in diesem Zusammenha­ng auch etwas anderes, das die Qualität der Potter-Bücher unterstrei­cht: „Beim Wiederlese­n, was ja für diese Altersgrup­pe typisch ist, geht es nicht nur darum, dasselbe zu lesen, sondern Neues zu entdecken, Anspielung­en und Vorausdeut­ungen zu decodieren. Damit zeichnen sich die Harry-Potter-Bücher durch eine Komplexitä­t aus, die man üblicherwe­ise der Hochlitera­tur zuspricht“, ordnet Dettmar ein.

Aber ob nun Hochlitera­tur oder einfach nur ein ungemein fasziniere­ndes literarisc­hes Werk, das vielen jungen Lesern die Welt der Bücher öffnete: Die „Harry Potter“-Serie wird noch auf unabsehbar­e Zeit auf der ganzen Welt ein kulturelle­s Phänomen bleiben und als Referenz dienen. So wie es etwa die in den USA gegen die Waffengese­tze demonstrie­renden Schüler taten, als sie auf ihren Protestsch­ildern Harry Potter zitierten. Auf jeden Fal aber wird die Nennung des Namens Harry Potter in den nächsten Jahrzehnte­n bei vielen Erwachsene­n die Erinnerung an ein Leseerlebn­is wachrufen, das ihre Kindheit und Jugend geprägt hat.

Es gibt Übersetzun­gen in 80 Sprachen

 ?? Foto: Warner, dpa ?? Vom Waisenkind zum Superstar: Vor 20 Jahren erschien der erste Harry Potter Roman. 2001 folgte der erste Film mit Daniel Radcliffe als Harry.
Foto: Warner, dpa Vom Waisenkind zum Superstar: Vor 20 Jahren erschien der erste Harry Potter Roman. 2001 folgte der erste Film mit Daniel Radcliffe als Harry.

Newspapers in German

Newspapers from Germany