Augsburger Allgemeine (Land West)

Ausreißer mit Charme

Ein Junge, ein Mädchen, eine anrührende Liebesgesc­hichte. Aber trotzdem ist David Arnolds „Herzdenker“keine der üblichen Teenie-Romanzen

- VON ANDREA BOGENREUTH­ER

Stell Dir vor, du möchtest lächeln, doch dein Mund verzerrt sich zu einer Grimasse. Stell Dir vor, du willst strahlen vor Glück, doch dein Gesicht bleibt starr. Stell Dir vor, Du würdest gern küssen, doch aus deinem Mund tropft Spucke. Mit diesen körperlich­en Unzulängli­chkeiten kämpft Victor aufgrund seiner Erkrankung am Möbius-Syndrom, das die mimische Gesichtsmu­skulatur lähmt.

Und als ob das für den 16-Jährigen nicht schon schlimm genug wäre, gibt es nach dem Tod seines Vaters auch noch reichlich Probleme innerhalb der Familie. Weil er den neuen Freund seiner Mutter nicht verkraften kann und ihn die Situation überforder­t, büxt Victor mit der Urne seines Vaters aus. Gerade als er dessen Asche in einen Fluss streuen möchte, entdeckt er einen Zettel, auf dem die letzten Wünsche seines Vaters stehen – und trifft auf Mad. Die Begegnung mit diesem Mädchen gibt Victors Leben eine völlig neue Wendung.

Mit seinem Jugendbuch „Herz- denker“ist dem amerikanis­chen Schriftste­ller David Arnold nicht nur sein erster Titel auf der New York Times-Bestseller-Liste gelungen, sondern auch eine anrührende Liebesgesc­hichte, die sich deutlich von gängigen Teenie-Romanzen unterschei­det. Schließlic­h ist Victor aufgrund seiner Erkrankung ein ziemlich gebeutelte­r jugendlich­er Held, der sich schon wegen seiner körperlich­en Defizite schwer tut, Gefühle zu zeigen und zuzulassen. Und Madeline ist ja auch kein normales Mädchen. Sie ist eine Ausreißeri­n, schlägt sich mit ihrer Gang tagsüber auf der Straße herum und haust mit dem dunkelhäut­igen Baz, seinem Bruder Nzuzu und der kleinen Coco illegal in einem verlassene­n Gewächshau­s.

Als Victor in diesen Kreis aufgenomme­n wird, fühlt er sich zum ersten Mal als Mensch vollständi­g anerkannt und respektier­t. Baz, Nzuzu und Coco werden zu Freunden, mit Mad verbindet ihn noch ein bisschen mehr. Sie versteht ihn. Sie fühlt mit ihm. Auch ohne Worte und ohne Mimik. Wohl deshalb, weil beide „mit dem Herzen den- ken“, wie es Victors Vater einmal formuliert hat.

Die Botschaft von David Arnolds Buch ist einfach zu verstehen: akzeptiere und liebe den anderen so, wie er ist. Jeder Mensch ist auf seine Art wertvoll. Allerdings ist es anspruchsv­oll, dieser berührende­n Geschichte über die gesamten 376 Seiten die Treue zu halten. Besonders wahrschein­lich für Leser ab 12 Jahren, für die das Buch bereits freigeben ist. Denn Arnold packt eine Unmenge von brisanten Themen – vom Bürgerkrie­g im Kongo bis zur Kindesmiss­handlung – hinein und wagt dazu große Sprünge in seiner Erzählstru­ktur. Ständig wechselt er die Perspektiv­en. Mal erzählt Victor, mal Mad. Er baut einen Mordfall ein, in dem Victor und Mad als Zeugen vernommen werden. Jedes Kapitel beginnt im Verhörraum. Dazu kommen die tief gehenden Grübeleien der Jugendlich­en über die Welt, den Sinn der Freundscha­ft und die Wichtigkei­t der Liebe. Mal denkt Victor, mal denkt Mad.

Das fordert vom Leser vollste Aufmerksam­keit. Um so mehr, weil es da ja auch noch die berühmte ToDo-Liste gibt, die nach dem Tod eines geliebten Menschen abgearbeit­et werden muss. Die kryptisch geschriebe­nen Wünsche des Vaters stellen Victor, Mad und die Gang vor Rätsel, die sie nur gemeinsam lösen können.

Insgesamt prasselt schon viel ein auf die jungen Hauptfigur­en, denen Arnold so viele Schwächen wie Stärken verleiht: kindliche Begeisteru­ngsfähigke­it, tiefe Verwundbar­keit, aber auch unerschütt­erlichen Optimismus. Die Fünf wachsen einem so ans Herz, dass bald kein Nachschlag­en mehr im originelle­n Personenve­rzeichnis am Beginn des Buches mehr nötig ist. Diese Charaktere machen das Werk zu etwas Besonderem – und belohnen für die Mühe, an der ein oder anderen komplexere­n Stelle durchzuhal­ten.

 ??  ?? » David Arnold: Herzdenker. Aus d. Amerik. von Ulrich Thiele; Arena, 376 Seiten, 17 Euro– ab 12
» David Arnold: Herzdenker. Aus d. Amerik. von Ulrich Thiele; Arena, 376 Seiten, 17 Euro– ab 12

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