Augsburger Allgemeine (Land West)
Ausreißer mit Charme
Ein Junge, ein Mädchen, eine anrührende Liebesgeschichte. Aber trotzdem ist David Arnolds „Herzdenker“keine der üblichen Teenie-Romanzen
Stell Dir vor, du möchtest lächeln, doch dein Mund verzerrt sich zu einer Grimasse. Stell Dir vor, du willst strahlen vor Glück, doch dein Gesicht bleibt starr. Stell Dir vor, Du würdest gern küssen, doch aus deinem Mund tropft Spucke. Mit diesen körperlichen Unzulänglichkeiten kämpft Victor aufgrund seiner Erkrankung am Möbius-Syndrom, das die mimische Gesichtsmuskulatur lähmt.
Und als ob das für den 16-Jährigen nicht schon schlimm genug wäre, gibt es nach dem Tod seines Vaters auch noch reichlich Probleme innerhalb der Familie. Weil er den neuen Freund seiner Mutter nicht verkraften kann und ihn die Situation überfordert, büxt Victor mit der Urne seines Vaters aus. Gerade als er dessen Asche in einen Fluss streuen möchte, entdeckt er einen Zettel, auf dem die letzten Wünsche seines Vaters stehen – und trifft auf Mad. Die Begegnung mit diesem Mädchen gibt Victors Leben eine völlig neue Wendung.
Mit seinem Jugendbuch „Herz- denker“ist dem amerikanischen Schriftsteller David Arnold nicht nur sein erster Titel auf der New York Times-Bestseller-Liste gelungen, sondern auch eine anrührende Liebesgeschichte, die sich deutlich von gängigen Teenie-Romanzen unterscheidet. Schließlich ist Victor aufgrund seiner Erkrankung ein ziemlich gebeutelter jugendlicher Held, der sich schon wegen seiner körperlichen Defizite schwer tut, Gefühle zu zeigen und zuzulassen. Und Madeline ist ja auch kein normales Mädchen. Sie ist eine Ausreißerin, schlägt sich mit ihrer Gang tagsüber auf der Straße herum und haust mit dem dunkelhäutigen Baz, seinem Bruder Nzuzu und der kleinen Coco illegal in einem verlassenen Gewächshaus.
Als Victor in diesen Kreis aufgenommen wird, fühlt er sich zum ersten Mal als Mensch vollständig anerkannt und respektiert. Baz, Nzuzu und Coco werden zu Freunden, mit Mad verbindet ihn noch ein bisschen mehr. Sie versteht ihn. Sie fühlt mit ihm. Auch ohne Worte und ohne Mimik. Wohl deshalb, weil beide „mit dem Herzen den- ken“, wie es Victors Vater einmal formuliert hat.
Die Botschaft von David Arnolds Buch ist einfach zu verstehen: akzeptiere und liebe den anderen so, wie er ist. Jeder Mensch ist auf seine Art wertvoll. Allerdings ist es anspruchsvoll, dieser berührenden Geschichte über die gesamten 376 Seiten die Treue zu halten. Besonders wahrscheinlich für Leser ab 12 Jahren, für die das Buch bereits freigeben ist. Denn Arnold packt eine Unmenge von brisanten Themen – vom Bürgerkrieg im Kongo bis zur Kindesmisshandlung – hinein und wagt dazu große Sprünge in seiner Erzählstruktur. Ständig wechselt er die Perspektiven. Mal erzählt Victor, mal Mad. Er baut einen Mordfall ein, in dem Victor und Mad als Zeugen vernommen werden. Jedes Kapitel beginnt im Verhörraum. Dazu kommen die tief gehenden Grübeleien der Jugendlichen über die Welt, den Sinn der Freundschaft und die Wichtigkeit der Liebe. Mal denkt Victor, mal denkt Mad.
Das fordert vom Leser vollste Aufmerksamkeit. Um so mehr, weil es da ja auch noch die berühmte ToDo-Liste gibt, die nach dem Tod eines geliebten Menschen abgearbeitet werden muss. Die kryptisch geschriebenen Wünsche des Vaters stellen Victor, Mad und die Gang vor Rätsel, die sie nur gemeinsam lösen können.
Insgesamt prasselt schon viel ein auf die jungen Hauptfiguren, denen Arnold so viele Schwächen wie Stärken verleiht: kindliche Begeisterungsfähigkeit, tiefe Verwundbarkeit, aber auch unerschütterlichen Optimismus. Die Fünf wachsen einem so ans Herz, dass bald kein Nachschlagen mehr im originellen Personenverzeichnis am Beginn des Buches mehr nötig ist. Diese Charaktere machen das Werk zu etwas Besonderem – und belohnen für die Mühe, an der ein oder anderen komplexeren Stelle durchzuhalten.