Augsburger Allgemeine (Land West)
Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (107)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Dann aber am nächsten Morgen frisch los auf die Inserate, fröhliche Jagd auf das Geld, Schwätzen und Überreden und Herumstehen in Läden und schließlich wieder der Abendweg zu ihr…
Es war unsinnig, wenn Vater sich da ausmalte, was sie wohl redeten und trieben im Wohnzimmer: sie trieben gar nichts.
Einmal hatte Harder seine Tochter gefragt, warum sie denn noch so laut gewesen seien, und Hilde hatte erklärt: „Willi hat mir Gedichte aufgesagt.“
„Gedichte?!!“hatte Harder zurückgefragt und sich wieder einmal gewundert, wie ein solcher Ausbund und Abgrund von Verlogenheit seine Tochter sein konnte.
Und doch hatte Hilde die Wahrheit gesprochen und Kufalt hatte wirklich Gedichte rezitiert.
Das Rindenhäuschen in jener durchwehten Novembernacht lag weit dahinten, daran durfte man nicht mehr denken, sonst mußte man sich nur schämen. Jetzt saßen
die beiden in einem richtigen bürgerlichen, gut durchwärmten Zimmer auf dem Sofa nebeneinander als ein richtiges Brautpaar, er erzählte von seinem Tag, erzählte von Freese und Kraft und der Stenotypistin Utnehmer, die er schon wieder mit einem andern Herrn auf dem Bummel gesehen hatte. Aber der Stoff war bald alle, das meiste hatte er ja schon seinem Schwiegervater erzählt.
Und wenn sie dann von ihrer künftigen Wohnung gesprochen hatten und von der Einrichtung, anderthalb Zimmer mit Küche – dann war es aber gänzlich vorbei.
Sie saßen stumm nebeneinander auf dem Samtsofa, Hand in Hand, er sehr gerade, mit den Augen auf die Lampe zu; sie mit der Neigung, gegen seine Schulter zu sinken und zärtlich zu werden.
Dann küßte er sie ein- oder zweimal und sagte beruhigend: „Ja, meine Liebste, es ist ja gut, Hilde, ich weiß ja.“Und dabei dachte er nach, worüber sie sprechen könnten, und ihre Brust war ihm so nah, und jetzt hätte er alles mit ihr tun können – aber nein, Rindenhäuschen vorbei. Jetzt hieß es Ordnung, Geldverdienen, Bürgerlichkeit. Ein klares Leben – und er wollte sich doch auch nicht schämen müssen vor den Harder, Freese und Kraft. Er hatte aufgeatmet, als sie ihm andeutete, damals – nein, es war nichts passiert, und vor Ostern wollten sie keinesfalls heiraten, und kam etwas, so würden sie doch alle mit den Fingern parat stehen und neun abzählen und sagen: „Aha, darum!!!“Nein, gerade nicht: Aha, darum! Sie war sehr blaß, mit dunklen Ringen unter den Augen, sicher war: sie verstand nichts.
Einmal brach sie aus: „Willi! Willi!! Warum willst du mich heiraten!! Bloß, weil ich damals nicht mehr gekommen bin?! Du liebst mich ja gar nicht!“
Aber er beruhigte sie, er wiegte sie in seinen Armen, er sagte, es sei alles richtig, wie er es machte, und eines Tages würde sie alles verstehen.
Und dann saßen sie wieder stumm da, die Lampe brannte still weiter und sie wußten wieder nicht, wovon reden. Und da eben geriet er auf seine Kindheit.
Sie gehörte hierher, in dieses gutbürgerliche Zimmer, diese geordnete Brautzeit. Sie gehörte genau an diese Stelle seines Lebens – Straftat, Gericht, Gefängnis wurden ausgemerzt; wo das bürgerliche Leben aufgehört hatte, da setzte er wieder an.
Gedichte, jawohl, aber nicht nur Gedichte. Manchmal saßen sie zusammen und summten ein Lied, leise, daß es die Eltern im Schlafzimmer nicht hörten: ,O Täler weit, o Höhen…‘ – ,Ännchen von Tharau…‘ – ,Wer hat dich, du schöner Wald…‘ –
Und beider Gesichter wurden heller, eilig trat ihr kleiner Fuß im durchbrochenen Halbschuh den Takt, die Gardinen hingen weiß und friedlich vor den Fenstern – er aber sagte: „Jetzt laß mich mal allein…“Und er sang: ,Beatus ille homo…‘ und ,Gaudeamus igitur …‘
Seine paar Gymnasialjahre waren wieder da, und ihre Augen hingen an ihm.
Dann kam das Weihnachtsfest, und die beiden Verlobten standen richtig unter dem Lichterbaum, und richtig spielte der kleine Willi zu ihren Füßen mit einer Puffbahn. Herr Harder aber schenkte seinem Schwiegersohn eine kalblederne Brieftasche mit einem dreimal angespuckten blanken Pfennig darin: „Daß euch das Geld nicht ausgeht“– und Frau Harder schenkte ihm einen Schal.
Von Hilde war nichts da, aber Hilde lächelte, ihre Backen waren rot, sie war sehr glücklich, und alles war so unwahrscheinlich friedlich und geborgen mit dem weißgezuckerten Stollen und dem Karpfen in Bier, als gäbe es gar keine Welt voller Gefahren, gäbe es nicht Verbrechen, Not, Kittchen, Vorbestraftheit.
War es da bei solch glücklichen Zeiten ein Wunder, daß Kufalt sich kaum noch um den kleinen Emil Bruhn kümmerte, ja, daß er ihm eigentlich aus dem Wege ging?
Er besuchte ihn nicht mehr, und wenn Bruhn zu Kufalt kam, so war der entweder nicht zu Haus oder in großer Hast, sich umzuziehen und wieder wegzukommen.
Einmal aber, kurz vor Weihnachten, hatte sich Bruhn bei solchem Umziehen in den großen Plüschsessel gehockt und zugesehen. Er hatte noch kleiner und rundlicher als sonst ausgeschaut, aber sehr sorgenvoll – ,Gehört zu den Leuten, die Kummerspeck ansetzen‘, dachte Kufalt flüchtig.
„Stimmt es, daß du mit der Hilde von Harders gehst?“
„Ja, Emil.“
„Daß du dich richtiggehend mit ihr verlobt hast?“
„Ja, Emil.“
„Viole oder ernsthaft?“ „Ernsthaft, Emil.“
„Und der Junge?“
„Ein netter Junge, Emil, mag ihn furchtbar gerne.“
„Wissen die das eigentlich von dir?“
„Nein, Emil.“
„Willst du’s ihnen erzählen?“„Noch nicht, Emil.“
„Mir hast du damals gesagt, man muß es gleich erzählen.“„Man weiß nie, wie was kommt.“„Also doch Viole!“
„Nein, ernsthaft.“„Warum sagst du’s denen dann nicht?“
„Sage es ihnen schon noch.“„Wann?“
„Bald.“
Kufalt rasiert sich sehr sorgfältig, deswegen wohl antwortet er auch so kurz. Nun aber ist er mit dem Rasieren fertig, macht Oberhemd zurecht, Kragen und Schlips, und so kann er fragen.
„Bist du eigentlich immer noch in der Fabrik, Emil?“
„Wie?“fährt Bruhn zusammen. Kufalt lacht. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken, Emil? Ob du noch in der Fabrik bist, frage ich.“
„Ja“, sagt Bruhn auch kurz und ist weiter gedankenvoll. Dann fragt er: „Wie ist das, Willi, wenn nun einer den Harders erzählt, daß du vorbestraft bist?“