Augsburger Allgemeine (Land West)

Haunstette­n brennt

Zum Auftakt unserer sechswöchi­gen Exkursion in den Süden Augsburgs ist es richtig heiß auf dem Georg-Käß-Platz – doch das hält wahre Lokalpatri­oten nicht ab. Kultur aus Haunstette­n beginnt furios

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Mit einem neuen Ort warm werden – das kann manchmal so schnell gehen. Die Sonne brennt über Haunstette­n. Wir haben zwar Schatten mitgebrach­t auf den Georg-KäßPlatz – aber wenig Hoffnung auf Besucher. 38 Grad unterm Maibaum. Unser mobiler Schreibtis­ch steht. Und jetzt? Wer wagt sich da schon raus? Viel Zeit, über diese Frage nachzudenk­en, bleibt nicht an diesem Dienstag. Sie kommen. Mit Ordnern, Aufzeichnu­ngen, Büchern, Fotografie­n, Archivmapp­en, Zeitungsau­sschnitten. Mit Ausweisen, in denen steht: Geboren in Haunstette­n, jetzt Augsburg.

„Kultur aus Haunstette­n“beginnt mit Petra Löw, die einen Packen Flyer auf den Schreibtis­ch legt und für ihren Kulturort wirbt. Drüben im alten Rathaus stehen 20000 Medien bereit zur Ausleihe, sagt die Leiterin der Stadtteilb­ücherei Haunstette­n. „Wir haben etwa 2000 angemeldet­e Nutzer.“Im September feiern sie 60. Geburtstag der Bücherei. So lange gibt es die schon in Haunstette­n. Die Geschichte begann 1958 im Keller der Pestalozzi­schule mit 1000 Bänden auf 70 Quadratmet­ern. Ach ja, damals war Haunstette­n noch selbststän­dige Stadt. Diese Ära, 1952 bis 1972, 20 kurze Jahre Stadtgesch­ichte vor der Eingemeind­ung nach Augsburg, wird noch öfter beschworen werden an diesem ziemlich heißen Tag – „weniger Haunstette­n als Palermo“, wie eine Besucherin meint.

Gabriele Moser, die in Haunstette­n alle als die Moser Gabi kennen, ist im Sportverei­n und im Kulturkrei­s Haunstette­n aktiv. Sie kümmert sich um die Geschichte ihres Ortes, in dem sie geboren wurde, als Haunstette­n noch nicht Stadt und erst recht nicht Stadtteil war, und den sie nie verlassen würde. Aufgeklärt­er Lokalpatri­otismus: So könnte man am besten beschreibe­n, wofür die meisten Besucher an diesem ersten Dienstag nahe der 1904 eröffneten Eichendorf­fschule stehen. Kaum einer, der hier nicht im Klassenzim­mer saß. Gerade fährt die Buslinie 24 vorbei, als Gabi Moser ein Foto von 1927 zeigt, auf dem eine Menschenme­nge eine blumengesc­hmückte Tram umringt: Damals kam die Straßenbah­n bis hierher, zum Georg-Käß-Platz. Vorbei. So wie es die alte Schmiede nicht mehr gibt – nur noch das Gitter steht wie ein Relikt an der kleinen Grünanlage. Und da war doch die Gaststätte „Grüner Baum“! Längst verschwund­en. Die Drogerie – nur noch Erinnerung. Ziemlich frisch dagegen wirkt die Postkarte, die der Kulturkrei­s hat drucken lassen: „Grüße aus Haunstette­n!“Bildmotiv: die Muttergott­eskapelle. Da müssen wir auch noch hin.

Nach zwei Stunden, in denen immer mehr Leute auftauchen („Darf ich zu dieser familiären Runde hinzustoße­n?“) und erzählen und bleiben, formt sich ein erstes Bild von Haunstette­n. Der Georg-Käß-Platz ist ein idealer Ort für unsere Sommerseri­e „Kultur aus Haunstette­n“. Von hier aus zeigen die Leute in alle Himmelsric­htungen, zu „Martini“, der alten Textilfabr­ik, zur Schule, zum Rathaus… Der Kommerzien­rat Johann Georg Käß (1823 bis 1903) ist eine prägende Figur – er hatte irgendwie überall die Finger drin in Haunstette­r Angelegenh­eiten. Der Vorläufer des Haunstette­r Krankenhau­ses ist wie so vieles eine Stiftung des Wohltäters, „ohne den Haunstette­n lange nicht das wäre, was es ist“, wie sie sagen.

Käß war auch vor Martini einst Besitzer der Bleiche, in der Manfred Lenz wie schon sein Vater als Bleichmeis­ter arbeitete. Der letzte Bleichmeis­ter! Martini und Messerschm­itt – das sind die großen Arbeitgebe­r gewesen in Haunstette­n. Martini gibt es nicht mehr, Messer- schmitt hat „acht verschiede­ne Namen“gehabt bis heute – aber niemand auf dem Georg-Käß-Platz würde sagen, er habe bei Premium Aerotec gearbeitet. „Wir sind Messerschm­ittler!“

Wer arbeitet, darf sich auch vergnügen. In Haunstette­n gab es einmal drei Kinos! Das Atrium, das gleich nach dem Krieg, Weihnachte­n 1945, eröffnet worden war. Karl Wahl weiß das noch genau. Und die Moser Gabi auch. „Das Atrium war beliebt, die hatten eine schöne Loge zum Knutschen.“Dann gab es das „3Mäderlhau­s“, dessen Leuchtrekl­ame noch immer an der Fassade prunkt. Und das CT, das Central Theater, mit dem Haunstette­n früh en vogue war, weil zu diesem Lichtspiel­haus auch ein Café gehörte. Kino in Haunstette­n – das ist heute nur noch Archivmate­rial.

Aber die Vergangenh­eit prägt einen Ort. Direkt an unserem Schreibtis­ch vorbei führt die alte Römerstraß­e Via Claudia. Heute radeln sie hier zum Baden oder in ihre Schrebergä­rten. Ein Leichenwag­en kurvt um den Platz, Traktoren tuckern vorbei, im alten Bauerndorf Haunstette­n gibt es noch immer Landwirte. Winfried Matzke vom Geodatenam­t hat alte und neue Stadtpläne von Haunstette­n mitgebrach­t. Und da ist er wieder: der kleine große Schmerz von 1972, als die Stadt Haunstette­n zum Stadtteil von Augsburg wurde. „Etwa 60 der 200 Straßen der Stadt Haunstette­n mussten wegen Doppelunge­n mit Augsburg umbenannt werden“, sagt Matzke. In der Brahmsstra­ße in Haunstette­n wohnt Helga Häring. Sie hat uns eine Fotoserie mitgebrach­t: der Abriss des Einkaufsze­ntrums bei ihr vor der Haustür, ein Zerstörung­swerk im Zeitraffer, das sie folgenderm­aßen kommentier­t: „Für mich ist das ein Sommer im Staub.“Genau davor haben wir am Georg-Käß-Platz auch Angst, denn jetzt steht neben der Eichendorf­fSchule ein riesiges Bauschild, das auf die neue Kindertage­sstätte hinweist. Die Baustelle ist schon abgesperrt, die Bauarbeite­r zeigen sich am bislang heißesten Tag des Jahres aber noch nicht.

Eine massige Gestalt nähert sich jetzt. Am Tisch tuscheln die Haunstette­r: „Der Brem.“Jeder kennt ihn, nur wir nicht. Der Brem heißt mit Vornamen Andreas und war und ist der Zeremonien­meister Haunstette­ns: zum Beispiel Stifter des örtlichen Maibaums – das erste Mal

1978, wie er erzählt. Bei dem Exemplar, das Brem zuletzt spendiert hat, muss es sich um einen Mammutbaum handeln, so hoch ist dieser Maibaum. Geflügelte­s Wort in Haunstette­n: „Haschn Problem, gesch zum Brem!“Dieser Brem hat – wie alle Haunstette­r, die uns am mobilen Schreibtis­ch besuchen – ein ausgeprägt­es Geschichts­bewusstsei­n. Und er besitzt Takt: Die Chronik seines Bauernhofs gibt er uns kurzerhand in die Redaktion mit. Am mobilen Schreibtis­ch können wir den Ordner unmöglich durchblätt­ern, da ist zu viel los.

Dort sitzt auch der CSU-Stadtrat und Haunstette­r Andreas Jäckel und ihm gegenüber Anita Höfle, die vor

60 Jahren die Stadtbüche­rei des Orts eröffnet hatte. „Das war mal eine gute Idee unseres Haunstette­r Stadtrats gewesen.“Eine Bücherei gab es im Ort, Buchhandlu­ngen allerdings nicht, da mussten und müssen die Haunstette­r nach Augsburg fahren. Und dann kommen da Jutta Goßner, die Vorsitzend­e des Kulturkrei­ses Haunstette­n, und Ludwig Luger, ebenfalls vom Kulturkrei­s. Goßner erzählt, dass das Kulturlebe­n 1990 bei der Gründung des Vereins in Haunstette­n brachlag. „Augsburg hat nichts gemacht, es gab nicht einmal ein Amt mehr.“Heute, 27 Jahre später, hat der Kulturkrei­s 100 Mitglieder, ein eigenes Archiv, in dem alles rund um Haunstette­n gesammelt wird. Die große Fotosammlu­ng wird gerade digitalisi­ert. Pro Monat bietet der Verein vier oder fünf Veranstalt­ungen an.

Nostalgisc­h wird es, als Brem gehen muss, ein Zahnarztte­rmin. Mit einem Vélosolex fährt er davon, ein prähistori­sches Gefährt aus den 1970er Jahren, ein französisc­her Mofa-Oldtimer, der ausschaut wie ein Fahrrad, über dessen Vorderrad ein Motor angebracht ist. Das MofaRad röhrt nicht, es trommelt vornehm davon.

Als jemand in die Runde das Stichwort „Haunstette­n-Hymne“wirft, dauert es keine zehn Sekunden, da beginnt Klara Wahl zu singen. „Wo fern im Süden Bayerns Berge grüßen / im weiten Tale an des Leches Strand …“In der Schule hatten sie das einst gesungen. „In Treue halten wir in allen Tagen zu dir, Haunstette­n, uns’re Heimat du.“

Dass unser zentraler Platz für sechs Dienstage, der MaibaumSta­ndort von Haunstette­n, nach dem hochmögend­en Wohltäter Georg Käß benannt ist: logisch. Etwas anders liegt die Sache mit der Albert-Leidl-Straße. Leidl war kein Kommerzien­rat. Er war Schuhmache­r in Haunstette­n – und Hobbymaler. Jeder kannte den 1900 geboren Mann, er war ein Original in Haunstette­n. Unverheira­tet, „aber ein Halodri mit den Frauen“, wie sie an unserem Schreibtis­ch mit hochgezoge­nen Augenbraue­n sagen. Obwohl seine Hosen „standen vor Dreck“und alle ihn für ziemlich arm hielten. Er malte, auch auf Auftrag – und zwar meistens „mit Schuhwichs­e als Farbe“! Der „Reitschust­er Bertl“, wie sie ihn nannten, sei vielleicht kein hochgradig­er Künstler gewesen, aber er habe wahnsinnig gern gemalt und niemanden fortgeschi­ckt, der bei ihm auftauchte mit der Frage: „Malst mir was?“Der Bertl wollte nicht vergessen werden mit seinem Tod. Deshalb vermachte er der Stadt Augsburg 1993 zur allgemeine­n Überraschu­ng eine Million – mit der Auflage, eine Straße nach ihm zu benennen.

Albert-Leidl-Straße: Auch da müssen wir hin. Haunstette­n ist an diesem Tag rund um den GeorgKäß-Platz noch größer, ja riesig geworden für uns. Fortsetzun­g folgt.

Die Trambahn fuhr einst bis hierher vor die Schule

Die „Haunstette­n Hymne“wird am Maibaum gesungen

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Fotos: Michael Schreiner (2), Richard Mayr (3) Neben dem riesigen Maibaum von Haunstette­n wirken unser Sonnenschi­rm und unser Pavillon auf dem Georg Käß Platz winzig.
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Und schon sind wir mittendrin in Gesprä chen über Haunstette­n.
 ??  ?? Haunstette­r Original: Andreas Brem auf seinem Vélosolex.
Haunstette­r Original: Andreas Brem auf seinem Vélosolex.
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Repro: M. Schreiner Jeder kannte Albert Leidl, bekannt als Reitschust­er Bertl.
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Unsere erste Besucherin: Petra Löw im Gespräch mit Michael Schreiner.
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AZ Redakteur Richard Mayr im Ge spräch mit Peter und Edeltraud Stadler.

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