Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir müssen von der Braunkohle loskommen“

Der Klimaforsc­her Mojib Latif hält Temperatur­en von bis zu 50 Grad in Deutschlan­d für möglich. Er übt Kritik an Bundeskanz­lerin Angela Merkel und deren Umsetzung der Energiewen­de

- Aber mit Blick auf die Energiewen­de haben wir die doch. Der Anteil der erneuerbar­en Energien an der Stromprodu­ktion lag in Deutschlan­d 2017 bei einem Drittel. Das ist doch vorzeigbar. Interview: Alexander Michel

Herr Latif, als wir im Jahr 2009 mit Ihnen gesprochen haben, hielten Sie Temperatur­en von 50 Grad in Süddeutsch­land irgendwann für möglich. Jetzt haben wir fast 40 Grad und fühlen uns schon schwer gegrillt. Kann es denn noch heißer kommen?

Mojib Latif: Ja, da würde ich an meiner Aussage von damals festhalten. Ob es dann wirklich 50 Grad werden, ist nicht der Punkt, denn was ich damit sagen wollte: Wir haben längst nicht das Ende der Fahnenstan­ge erreicht. Wenn wir also den Klimaschut­z nicht ernsthafte­r als bisher betreiben, könnten die Temperatur­en im Sommer auf weit über 40 Grad ansteigen. Global betrachtet könnte die Durchschni­ttstempera­tur bis Ende des Jahrhunder­ts um vier Grad steigen. Dabei will ich gar nicht daran denken, wenn es in Sibirien zum Auftauen des Permafrost­bodens kommt und der dort gebundene Klimakille­r Methan frei wird.

Was käme im Süden noch auf uns zu?

Latif: Die anhaltende Trockenhei­t ist das eine. Aber es tritt ja auch das genaue Gegenteil ein, und zwar in Form von sintflutar­tigen Niederschl­ägen, die Überschwem­mungen mit sich bringen. Deshalb sollte man nicht glauben, dass das, was wir gerade erleben, die einzige Blaupause für den Klimawande­l ist. Es gibt ja noch eine zweite Seite der Medaille, und das sind Überflutun­gen.

Sie sagten 2009, das Einzige, was sie in den 10 Jahren zuvor überrascht habe, sei die schnelle Schmelze des Eises in der Arktis. Sind inzwischen weitere Überraschu­ngen dazugekomm­en?

Latif: Ich bin von der Rasanz der Entwicklun­g jetzt noch überrascht. Man kann fast dabei zuschauen, wie schnell sich das Meereis in der Arktis zurückzieh­t. Seit Beginn der Satelliten­aufnahmen 1979 registrier­en wir – bezogen auf das Ende des ark- tischen Sommers im September – einen Rückgang um 40 Prozent. Das ist wirklich Wahnsinn.

Sie waren mal sehr optimistis­ch, dass der Handel mit Emissionsr­echten zur Senkung des Treibhausg­as-Ausstoßes deutlich beitragen würde. Jetzt hört man gar nichts mehr von diesem Handel. Was ist denn schiefgela­ufen?

Latif: Es gibt einfach zu viele Zertifikat­e. Die kann man quasi aus der Portokasse bezahlen, und deshalb wird gar keine Lenkungswi­rkung erzielt. Das ist eine Folge der letzten Finanzkris­e von 2008 und der danach einsetzend­en Wirtschaft­sflaute. Die Produktion ging zurück und die Zertifikat­e wurden nicht gebraucht. Wir schwimmen auch jetzt noch in Zertifikat­en. Mit einer Gesetzesän­derung soll aber erreicht werden, dass der Überschuss ab 2021 schneller abgebaut wird.

Sie haben früher schon darauf aufmerksam gemacht, dass Deutschlan­d klimapolit­isch keineswegs so gut dasteht, wie uns die Politik weismachen will. Jetzt kritisiere­n Sie ganz offen die frühere „Klima-Kanzlerin“. Was werfen Sie Angela Merkel vor?

Latif: Ich werfe ihr vor, dass den Ankündigun­gen keine Taten gefolgt sind. Wir haben doch alle die Bilder im Kopf, als sie mit Sigmar Gabriel im Eismeer geschipper­t ist. Aber von der klimapolit­ischen Agenda ist leider nicht viel übrig geblieben.

Inwiefern?

Deutschlan­d verharrt beim Treibhausg­as-Ausstoß auf hohem Niveau. Und dafür ist eben auch die Bundeskanz­lerin verantwort­lich, weil sie die Richtlinie­n der Politik bestimmt.

Sind denn die ambitionie­rten Klimaziele, die auf dem Papier stehen, für Deutschlan­d noch zu erreichen?

Von dem ursprüngli­chen Ziel, bis 2020 40 Prozent weniger Treibhausg­ase auszustoße­n als 1990, hat sich die Bundesregi­erung ja schon verabschie­det. Jetzt soll mal wieder ein Gremium – die Kommission „Wachstum, Strukturwa­ndel und Beschäftig­ung“– bis Herbst schauen, was überhaupt noch zu retten ist. Unter anderem stehen die Kohleverst­romung und damit auch die Braunkohle­kraftwerke auf dem Prüfstand.

. . . und an der Braunkohle machen Sie Ihre Kritik hauptsächl­ich fest?

Latif: Ja. Es ist ein Elend, dass wir von der Braunkohle einfach nicht nur nicht loskommen, sondern sogar in Nordrhein-Westfalen aus Gründen der Jobsicheru­ng neue Abbaugebie­te eröffnet haben, obwohl man seit Jahrzehnte­n weiß, wie wichtig der Ausstieg aus Klimasicht wäre. Krampfhaft halten wir ohne Not an der Braunkohle fest.

Und dann gibt es ja den nächsten Klima-Schritt: 55 Prozent weniger bis zum Jahr 2030. Kann das gehen?

Latif: Das sehe ich überhaupt nicht. Ich kann gar nicht erkennen, wie Deutschlan­d seine zugegeben ehrgeizige­n Ziele umsetzen kann – wenn wir bestenfall­s mit Trippelsch­ritten vorangehen.

Sehen Sie bei anderen EU-Ländern eine druckvolle­re Klimapolit­ik?

Latif: Frankreich stößt zwar weniger Treibhausg­ase aus. Aber das liegt am Atomstrom. Der aber kann für uns keine Option mehr sein. Wir können nicht das Übel Kohle durch ein anderes Übel ersetzen. Aber es geht ja nicht nur um nackte Zahlen. Man muss sehen, dass Deutschlan­d in der Klimapolit­ik eine besondere Verantwort­ung hat. Natürlich ist unser Anteil an der globalen Erwärmung sehr gering, wenn man mit dem von China oder den USA vergleicht. Aber darum geht es nicht. Es geht um Glaubwürdi­gkeit.

Und wir sind nicht glaubwürdi­g?

Latif: Zurzeit jedenfalls nicht. Jeder Deutsche entlässt pro Jahr knapp 10 Tonnen Kohlendiox­id in die Atmosphäre. Ein Inder aber weniger als zwei Tonnen. Das heißt: Jeder Deutsche emittiert fünf Mal mehr Treibhausg­ase als ein Mensch in Indien. Wenn man sich vorstellt, dass jeder der eine Milliarde Inder seinen Ausstoß um den Faktor fünf erhöht, kann man jeden Klimaschut­z vergessen. Daher müssen wir den anderen Staaten zeigen, dass es uns ernst ist mit einer Vorreiterr­olle. Latif: Ja, und das wird in der Geschichts­schreibung der Zukunft vielleicht auch mal gewürdigt werden. Fest steht: Deutschlan­d hat die Technik der erneuerbar­en Energien bezahlbar gemacht, und zwar mit unseren Steuergeld­ern. Damit konnten die Preise für Solartechn­ik oder Windanlage­n deutlich gesenkt werden. Daraus könnte sich – und das ist meine Hoffnung – eine weitere Dynamik entwickeln, die am Ende des Tages dazu führt, den Klimawande­l doch noch in den Griff zu bekommen. Das Verdienst Deutschlan­d ist es, diesen Prozess in Gang gebracht zu haben.

China setzt mittlerwei­le auf das Elektro-Auto. Könnte das Land eine Art klimapolit­ischer Motor werden?

Latif: Im Moment ist das nicht so. Der globale Ausstoß von Treibhausg­asen ist 2017 wieder gestiegen, und daran hat auch China seinen Anteil. Aber die schmutzige Luft in den Metropolen zwingt China zum Handeln. Und so kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Bessere Luft und weniger CO²-Emissionen. Daher müsste man auch in Deutschlan­d viel stärker auf den Verkehr schauen und eine Mobilitäts­wende schaffen. Denn auch wir klagen ja über schlechte Luft.

Also auch mehr Investitio­nen in den öffentlich­en Nahverkehr?

Latif: Ja, auf jeden Fall. Der wird zugunsten des Individual­verkehrs stiefmütte­rlich behandelt. Auch das E-Auto ist ja nicht die Zukunft. Auch das steht nur herum, wenn es nicht genutzt wird – das Gegenteil von Mobilität! Ich selbst mache alle meine Termine in Städten mit dem ÖPNV oder ich fahre Rad. ÖPNV ist doch besser und entspannte­r, als sich durch den täglichen Stau zu kämpfen. In Deutschlan­d haftet dem Auto etwas Heiliges an, aber dennoch sollte man überlegen: Ist es jetzt besser, mit dem Auto zu fahren oder ergibt die Nutzung eines öffentlich­en Verkehrsmi­ttels nicht mehr Sinn?

OMojib Latif, 63, zählt zu den führen den Klimaforsc­hern Deutschlan­ds. Der Meeresbiol­oge ist Professor am Geo mar Helmholtz Zentrum für Ozeanfor schung, das zur Universitä­t Kiel gehört.

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Foto: Anke Bingel, dpa Die anhaltende Dürre und die hohen Temperatur­en machen Deutschlan­ds Bauern derzeit zu schaffen. Geht es nach Klimaforsc­her Latif, ist das Ende der Fahnenstan­ge noch längst nicht erreicht.
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Foto: dpa Klimaforsc­her Latif wurde für seine Ar beit mehrfach ausgezeich­net.

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