Augsburger Allgemeine (Land West)

Siemens Chef bereitet sein Erbe vor

Joe Kaeser lässt sich von den Spielern an den Kapitalmär­kten nicht in die Enge treiben. Er geht seinen eigenen Weg

- VON STEFAN STAHL

München „Darf ich aufstehen?“, fragt der groß gewachsene, schlanke Siemens-Chef seine Kommunikat­ions-Expertinne­n. Dabei lächelt er. Natürlich darf Joe Kaeser am Donnerstag in München seine Grundsatzr­ede zur Zukunft des Konzerns am Stehpult halten. Dabei hätte es des wohlwollen­den Nickens seiner Kolleginne­n nicht bedurft. Der Niederbaye­r mit den buschigen dunklen Augenbraue­n und dem grauschwar­zen Haar gehört zum Typus Mann, der sein Ding schon mal ohne Rückendeck­ung durchzieht.

So trug es sich wohl auch zu, als der 61-Jährige via Twitter seine inzwischen berühmt gewordene Attacke gegen die AfD-Politikeri­n Alice Weidel ritt und kurz-provokativ textete: „Lieber Kopftuch-Mädel als Bund Deutscher Mädel. Frau Weidel schadet mit ihrem Nationalis­mus dem Ansehen unseres Landes in der Welt. Da, wo die HauptQuell­e des deutschen Wohlstands liegt.“Nationalis­mus passt nun mal nicht zum Geschäfts- und Moralkonze­pt eines Global Players.

Was Kaeser so erregte, waren Weidels ausländerf­eindliche Äußerungen vor dem Bundestag. Die Fraktionsv­orsitzende hatte polemisier­t: „Burkas, Kopftuch-Mädchen und alimentier­te Messermänn­er und sonstige Taugenicht­se werden unseren Wohlstand, das Wirtschaft­swachstum und vor allem den Sozialstaa­t nicht sichern.“Der SiemensChe­f hatte den Eindruck, „dass man so etwas nicht stehen lassen kann“. Während andere Spitzen-Manager schwiegen, wagte er Widerworte, was ihm und seiner Familie die üblichen Schmähunge­n einbrachte.

Doch wenn Kaeser von etwas überzeugt ist, fühlt er sich zum Handeln berufen, ob es um krude Parolen oder die Zukunft der Siemens AG geht. Dabei geht er nicht immer politisch korrekt vor, schert also aus der Riege seiner oft eher braven Manager-Kollegen in großen Aktiengese­llschaften aus.

Als der Siemens-Boss die neue Konzern-Strategie „Vision 2020+“erläutert, verstößt er gegen einen Rat an Spitzen-Manager, es mit der Ironie in der Öffentlich­keit nicht zu übertreibe­n. Kaeser nimmt Anleihen beim größten aller Twitterer, also Donald Trump. Lächelnd meint der Deutsche: „Ich sollte das nicht sagen, aber Siemens ist wieder ,great again‘.“Das seien keine „Fake News“. Der US-Präsident will Amerika ja „great again“, eben groß machen. Der Siemens-Chef genießt seinen eigenen Witz. Die Kaeser-Show geht weiter: Er nimmt auch noch Anleihen beim Evolutions­theoretike­r Charles Darwin. Demnach doziert der Manager vor Journalist­en und Finanz-Analysten auf Englisch: Es überlebe nicht immer die stärkste und intelligen­teste Spezies, sondern diejenige, die sich an die Umwelt am besten anpasse.

Auf was will Kaeser nun hinaus? Führen seine kulturgesc­hichtliche­n Vorreden zur Verkündung eines Job-Abbauprogr­amms? An dem Tag nicht. Es geht ihm um etwas anderes. Seine Diagnose lautet: Siemens ist so stark wie lange nicht, dürfe sich aber, auch wenn es vielen schwerfall­e, nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Jetzt gelte es Veränderun­gen einzuleite­n. Die Kenner des Konzerns sind sich einig: Kaeser, dessen Vertrag Anfang 2021 ausläuft, will sein Erbe schon jetzt regeln, um das Siemens-Haus einmal in so guter Verfassung wie heute übergeben zu können. Deshalb formt er aus fünf drei dann riesige Geschäftse­inheiten (Energie, Infrastruk­tur und digitale Industrie).

Die Sparten sollen unter dem Münchner Dach reichlich Leinenfrei­heit genießen. Sie dürfen die Geschäfte unabhängig­er als jetzt vorantreib­en. Zwei der drei Einheiten sitzen aber im Ausland. Aus der Zentrale sollen dann Stellen in die Standbeine wandern. Kaeser gibt indes nicht den Wünschen der Mächtigen an den Kapitalmär­kten nach, Siemens solle filetiert und die Zentrale zur reinen Finanz-Holding umgebaut werden. Der Bayer verzichtet auf eine Zerschlagu­ng des Konzerns, was gestern an der Börse zu einem stark sinkenden Aktienkurs beigetrage­n hat. Dennoch geht der Manager seinen Weg. Kaesers Selbstbewu­sstsein speist sich aus guten Geschäftsz­ahlen. Er baut Siemens mit Augenmaß um, was dennoch zu höheren Renditen führen soll. Eines will der Manager vermeiden: Siemens dürfe nicht das Schicksal des einst übermächti­gen und tief gefallenen Rivalen General Electric erleiden. Der US-Konzern hat es versäumt, sich zu erneuern, und zerlegt sich nun hektisch selbst.

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