Augsburger Allgemeine (Land West)

Allein mit Sophie

1,5 Millionen Menschen in Deutschlan­d ziehen ihre Kinder ohne Partner groß. Menschen wie Natascha Braunmülle­r. Nun will sie beruflich wieder Fuß fassen. Aber wer betreut ihre Tochter? Da fängt das Problem schon an. Und es ist nicht das einzige

- VON FELICITAS LACHMAYR

Augsburg Wenn man etwas erreichen will, muss man dafür kämpfen. Diesen Satz hat Natascha Braunmülle­r immer im Kopf. Doch als sie sich vor einem Jahr entschied, eine Ausbildung zur Erzieherin zu machen, rechnete sie nicht damit, dass es ein Kampf werden würde – mit Behörden, um Kosten, gegen die Zeit. Denn Braunmülle­r hat ein Problem. Sie ist alleinerzi­ehend.

Wenn Tochter Sophie in der Krippe ist, telefonier­t die 35-Jährige mit Ämtern. Nein, wir können die Kosten nicht übernehmen. Nein, eine eigene Tagesmutte­r wird schwierig. Nein, es gibt nichts Neues in Ihrem Fall. Natascha Braunmülle­r hat Dutzende solcher Telefonate geführt. Sie hinterlass­en sie ratlos, wütend, manchmal nur noch hilflos. Dabei will sie nur eins: eine bessere Zukunft für sich und ihre Tochter. Dafür hat sie sich einen Plan zurechtgel­egt. Sie findet ihn ziemlich überzeugen­d.

In Deutschlan­d geht es vielen Menschen so. 1,5 Millionen ziehen ihre Kinder ohne Partner groß. Diese Zahl hat das Statistisc­he Bundesamt am Donnerstag veröffentl­icht. Demnach ist jede fünfte Familie ein Alleinerzi­ehenden-Haushalt. Meist sind es Frauen, die sich um die Kinder kümmern. Die Probleme fangen oft schon bei der Wohnungssu­che an. Dazu kommen finanziell­e Schwierigk­eiten, bürokratis­che Hürden, mangelnde Betreuungs­angebote. Insgesamt habe sich die Lage der Alleinerzi­ehenden in den vergangene­n Jahren verbessert, sagt Georg Thiel, Präsident des Statistika­mtes. „Die Situation ist nach wie vor prekär“, findet dagegen Helga Jäger vom Verband alleinerzi­ehender Mütter und Väter Bayern.

Natascha Braunmülle­r lebt mit ihrer zweieinhal­bjährigen Tochter in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Augsburg, nicht weit vom Lech entfernt. Vom Wohnzimmer­fenster aus blickt sie ins Grüne. Das war ihr wichtig. Genauso wie der kleine Balkon. Zwei Quadratmet­er unter freiem Himmel. Die vielen Pflanzen in der Wohnung wirken wie ein Gartenersa­tz. Braunmülle­r sitzt am Esstisch. Die blonden Haare hängen locker über ihre Schultern. Sie ist zierlich, aber taff. Eine Frau, die weiß, was sie will.

Vor ihr liegt ein grüner Ordner. Darin hat sie alle Unterlagen und Schreiben von Behörden gesammelt. Warum sie umschulen will? Das war die erste Frage, die die gelernte Friseurin im Jobcenter zu hören bekam. Nicht gerade motivieren­d für eine Alleinerzi­ehende, die 15 Jahre lang als Friseurin gearbeitet hat und fest entschloss­en ist, beruflich wieder Fuß zu fassen. Braunmülle­r hofft auf ein höheres Einkommen. Und Erzieherin sei ein spannender Beruf, der gefragt ist.

Seit über einem Jahr kämpft sie dafür, die Ausbildung an der Fachakadem­ie für Pädagogik in Augsburg zu beginnen. In Teilzeit. Die beste Option, wie sie sagt. Drei Tage wäre sie in der Schule, den Rest der Woche hätte sie Zeit für Sophie, den Haushalt, zum Lernen, für sich. Die Schule stimmte zu, nach langem Hin und Her willigte auch das Jobcenter ein. Bleibt nur die Frage, wer Sophie betreut?

Oft hat Braunmülle­r das Gefühl, sich für ihre Entscheidu­ng rechtferti­gen zu müssen. Erst war die Ausbildung das Problem, dann die Teilzeit, jetzt ist es die Tagesmutte­r. Sie wünscht sich jemanden, der zu ihr nach Hause kommt und auf Sophie aufpasst, bis sie abends aus der Schule zurück ist. Doch das Sozialamt stellt sich quer und verweist ans Jugendamt. „Es geht um 700 Euro mehr im Monat“, sagt Braunmülle­r. Das ist offenbar nicht drin.

Stattdesse­n soll sie ihre Tochter zu einer Tagesmutte­r bringen, die mehrere Kinder gleichzeit­ig betreut. „Da heißt es am Telefon nur: Andere schaffen es ja auch“, sagt sie. „Aber ich möchte mein Kind nicht abends wecken, bei Wind und Wetter in den Fahrradanh­änger setzen und zu Hause wieder ins Bett bringen müssen.“Ein Auto hat sie nicht. Jeden Morgen fährt sie Sophie mit dem Rad in die Krippe, egal ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint. Aber wer entscheide­t, was zumutbar ist und was nicht?

Auf Anfrage heißt es vonseiten der beteiligte­n Behörden, man könne zu Einzelfäll­en keine Stellung nehmen. Das Jobcenter teilt mit, die Entscheidu­ng treffe die zuständige Integratio­nsfachkraf­t auf Grundlage des Sozialgese­tzbuches. Für Natascha Braunmülle­r sind die Wege oft nicht nachvollzi­ehbar. Sie wünscht sich mehr Verständni­s vonseiten der Behörden. „Warum sitzen da Männer, die selbst keine Kinder haben und sich nur schwer in meine Lage versetzen können?“Helga Jäger vom Verband der Alleinerzi­ehenden kennt das Problem. „Viele Berater haben nicht das Gesamtbild im Auge. Sie erkennen nicht, was langfristi­g hilft, um Alleinerzi­ehende aus der Sozialleis­tungsspira­le herauszuho­len.“Oft hinge die Entscheidu­ng von Einzelnen ab. Eigentlich müss- sie speziell für die Situation von Alleinerzi­ehenden geschult werden, findet die Expertin. Zudem plädiert sie für eine stärkere Zusammenar­beit zwischen Berufskamm­ern, Jobcentern und Beratern. Nur so könnten Alleinerzi­ehende, die sich beruflich umorientie­ren wollen, stärker unterstütz­t werden.

Dass Natascha Braunmülle­r die Ausbildung machen will, hat sie längst bewiesen. Die Wand über dem Esstisch ist mit Merkzettel­n übersät. Vokabeln. Unregelmäß­ige Verben. Grammatikr­egeln. Sieben Monate lang hat sie Englisch gepaukt. Sie hat zwar einen Hauptschul­abschluss, aber ohne Englischpr­üfung kann sie die Ausbildung nicht starten. Zweimal in der Woche nahm sie Nachhilfe, lernte, übte, schmiss nebenher den Haushalt und kümmerte sich um Sophie. Eine stressige Zeit. Trotzdem strahlt sie, wenn sie davon erzählt. Im Juni bekam sie das Zeugnis zur bestandene­n Prüfung überreicht. „Das beste Geschenk.“Es war ihr Geburtstag. Die kleinen Merkzettel pappen immer noch an der Wand. Sie erinnern Natascha an Vokabeln, Grammatikr­egeln und daran, dass sie es schaffen kann.

Denn manchmal zweifelt sie daran. Über ihrem Esstisch baumeln zwei Bilder mit bunten Handabdrüc­ken darauf. „Die haben Sophie und ich zusammen gemalt“, sagt die Alten leinerzieh­ende. Der Raum wirkt freundlich und hell. Dort, wo eigentlich Sofa und Fernseher stehen, thront ein Kletterkas­ten aus Holz. Daneben: ein kleines Trampolin. In einer Kiste liegen Sophies Lieblingsb­ücher. Wimmelbild­er. Tierbücher. Der Grüffelo. „Je älter Sophie wird, desto größer wird die Ecke“, sagt Braunmülle­r mit einem Lachen. Ihr Schreibtis­ch und ein paar Blumen mussten schon weichen. Ein eigenes Kinderzimm­er gibt es nicht.

Die 35-Jährige lebt von Arbeitslos­engeld, Kindergeld und einem Unterhalts­vorschuss – eine staatliche Leistung, weil der Vater nichts zahlt. Sie spart, wo sie kann. Für den Englischun­terricht hat es trotzdem nicht gereicht. „Ohne die finanziell­e Unterstütz­ung meiner Mutter hätte ich das nicht bezahlen können.“Das Jobcenter wollte die Kosten nicht übernehmen.

Alleinerzi­ehende und ihre Kinder sind in Deutschlan­d überdurchs­chnittlich häufig von Armut bedroht. Zwar ist das Risiko in den vergangene­n Jahren leicht gesunken. Trotzdem leben immer noch 33 Prozent von ihnen am Existenzmi­nimum. Bei Familien mit zwei Erwachsene­n sind nur elf Prozent von Armut bedroht. „Alleinerzi­ehende tun viel, damit es ihren Kindern gut geht“, sagt Helga Jäger vom Interessen­verband. Aber es fange schon bei Kleinigkei­ten an. Kindergebu­rtstag, Klassenfah­rten, Urlaub. Das sei oft nicht drin. Um Alleinerzi­ehende zu entlasten, fordert Jäger die Einführung einer Kindergrun­dsicherung, in der alle staatliche­n Leistungen für Kinder zusammenge­fasst sind. „Das bestehende Leistungss­ystem ist zu komplizier­t“, sagt die Expertin. Knapp zwei Drittel der Alleinerzi­ehenden haben nicht die finanziell­en Mittel, um unerwartet­e Ausgaben von etwa tausend Euro zu stemmen. Natascha Braunmülle­r kennt das Problem. Anfang des Jahres ging ihr Kühlschran­k kaputt. Das brachte ihre Finanzen durcheinan­der. „Zum Glück hatte ich etwas Geld gespart und habe eine Mutter, die im Notfall einspringt“, sagt sie.

Geplant hatte die Alleinerzi­ehende ihr Leben so nicht. Als sie schwanger wurde, forderte ihr Partner sie auf, das Kind abzutreibe­n. Sie war verzweifel­t, hatte schon einen Termin in einer Münchner Klinik. „Ich dachte, ich mache das, ohne dass es jemand erfährt.“Aber die Zweifel ließen sie nicht los. Eine Operation am Arm stand an. Beim Röntgen, für die Narkose, immer wieder musste sie angeben, dass sie schwanger war. Die Abtreibung­sbeschreib­ungen im Internet schockiert­en sie. „Als ich dem Vater sagte, dass ich das Kind bekommen möchte, brach er den Kontakt ab“, erzählt Braunmülle­r.

Sie senkt den Blick, nachdenkli­ch dreht sie den silbernen Ring an ihrem Finger hin und her. In ihren Augen spiegeln sich Enttäuschu­ng und Trauer. Zu Sophies Geburt hat sie dem Vater Fotos geschickt – keine Reaktion. Erst elf Monate später erkannte er die Vaterschaf­t an. Irgendwann hat sie aufgehört, seine beleidigen­den Nachrichte­n zu lesen. „Ich bin einfach froh, dass ich damals nicht auf ihn gehört habe“, sagt Braunmülle­r. Sie hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Es fiel ihr schwer, vor allem wegen Sophie. Als sie sich vor kurzem mit einer anderen Mutter traf, fragte der Sohn, wo Sophies Papa sei. „Diese Frage wird sich auch Sophie irgendwann stellen.“

Viele Alleinerzi­ehende sind mit ihrer Situation überforder­t. Die

Die erste Frage war: Warum wollen Sie umschulen?

Wann sie zuletzt im Kino war? Sie sagt: Das weiß ich nicht

Trennung vom Partner verursacht Stress, dazu kommt die Belastung, für alles allein verantwort­lich zu sein. Die Sorgen und der Druck, bei der Erziehung alles richtig zu machen, lastet ungeteilt auf ihnen. „Es ist ein langer Prozess, sich da freizuscha­ufeln und die Situation zu verarbeite­n“, sagt Expertin Jäger.

Natascha Braunmülle­r kennt das Gefühl, wenn die Unterstütz­ung fehlt. Das fängt bei kleinen Dingen an: Soll sie bei der Hitze Übergangss­chuhe oder gleich Sandalen für Sophie kaufen? Und endet bei grundlegen­den Fragen: Wie man den Schnulli abgewöhnt, dem Kind beibringt, aufs Töpfchen zu gehen oder welche Impfung wann nötig ist. „Es ist nicht einfach, alles mit sich selbst auszumache­n“, sagt sie.

Aber die Frau ist kein Typ für Selbstmitl­eid. Sie hat gelernt, sich anderweiti­g Rat zu holen. Nach Sophies Geburt war die Hebamme ihre Ansprechpa­rtnerin. Jetzt tauscht sie sich mit ihrer Mutter aus, wälzt Erziehungs­ratgeber oder löchert ihre Schwester, die selbst Kinder hat und als Erzieherin arbeitet. „Meine Familie unterstütz­t mich, so gut es geht, aber ich kann und will ihnen nicht alles zumuten.“

Viel Zeit für sich bleibt ihr nicht. Abends mit Freunden treffen – fast unmöglich. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal im Kino war“, sagt Natascha Braunmülle­r. Im September beginnt die Ausbildung. Dann wird der Zeitplan noch straffer. Noch weiß sie nicht, wer Sophie dann betreut. Aber sie kämpft weiter. Allein. Für sich und ihre Tochter.

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Fotos: Silvio Wyszengrad „Es ist nicht einfach, alles mit sich selbst auszumache­n“: Natascha Braunmülle­r mit Tochter Sophie in ihrer Augsburger Wohnung.
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Überall in Natascha Braunmülle­rs Woh nung hängen Zettel mit Englisch Voka beln – Relikte eines Englischku­rses.

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