Augsburger Allgemeine (Land West)

Wo man hinsieht: Königsklas­se

Auf nach Herrenchie­msee! Bayerns Staatsgemä­ldesammlun­gen zeigen dort herausrage­nde Moderne

- VON CHRISTA SIGG Fotos: Nicole Wilhelms, BStGS, VG Bild Kunst; Axel Schneider

Herrenchie­msee Eigentlich möchte man gleich im ersten Raum bleiben, so dermaßen gut riecht es hier. Und die Rezeptur ist denkbar simpel, wenn man bedenkt, mit welchem Aufwand mittlerwei­le Boutiquen und Kaufhäuser beduftet werden, um uns übers Unterbewus­stsein zu ködern. Wolfgang Laib hat solchen Firlefanz gar nicht nötig, denn bei allem, was unter seinen Händen zu Kunst wird, setzt er auf die Natur. Vor zwei Jahren war es noch ein Teppich aus hellgelben Kiefernpol­len, von dem sich das Auge kaum lösen konnte, Delirium inklusive. Jetzt ist es eine Tonne Bienenwach­s, die sich auf den beiden Hälften einer scheinbar halbierten Stufenpyra­mide in die Höhe stemmt.

Laib selbst spricht von einem Zikkurat, im Babylonisc­hen sind damit gestufte Tempeltürm­e oder „Götterberg­e“bezeichnet. Bekanntlic­h hat der architekto­nische Himmelsstu­rm schon in alttestame­ntarischen Zeiten nicht funktionie­rt, erst recht darf man ihn als Sinnbild für unsere größenwahn­sinnige Epoche begreifen. Und durch die nachgiebig­e, verletzlic­he Wachsverkl­eidung, die durch ihre Fugen an überdimens­ionale Ziegel erinnert, bilden die vier Meter hohen Bodenskulp­turen ein herrliches Pendant zu den unverputzt­en Wänden im Nordflügel von Schloss Herrenchie­msee.

Dass diese Hommage Ludwigs II. an den Sonnenköni­g und Versailles unvollende­t geblieben ist, erweist sich in unseren Tagen als Vorteil. Wir goutieren heute die rohen Räume, die Kunst der Gegenwart gewinnt hier eine ganz eigene Präsenz und Dynamik. Sowieso im Vergleich zum steril-cleanen, oft genug „white cube“, dem weißen Museumsrau­m.

In der Pinakothek der Moderne wirken Arnulf Rainers düsterdunk­le Kreuze nicht halb so überzeugen­d, ihnen fehlt dort der Widerspruc­h, auch ein Hintergrun­d, gegen den sie sich behaupten müssen. Deshalb dürfen die Kruzifikat­ionen, die das gesamte Schaffen des bald 90-Jährigen Über-Malers durchziehe­n – der Österreich­er wurde mit Übermalung­en von Gemälden und Fotografie­n bekannt –, bei dieser nunmehr vierten „Königsklas­se“seit 2013 wieder einen ganzen Raum einnehmen. Das Spiel mit alten Symbolen greift auch Andy Warhol allzu gerne auf. Der Pop-Art-Meister hat sich in den 70er-Jahren während des Kalten Krieges ausgerechn­et an Hammer und Sichel abgearbeit­et. Allerdings nimmt er das schlagende Duo auseinande­r und führt beide Teile auf die Ebene des bloßen Werkzeugs zurück. Als Stillleben wollte er diese Bilder verstanden wissen, und man muss an die Dollarsche­ine denken, mit denen Warhol einst den Kapitalism­us als westliches Allheilmit­tel hinterfrag­t hat. Der ewig missverfad­en standene Karl Marx hätte vermutlich an beidem seine Freude – so, wie Mentor Warhol an den impulsiv kraftvolle­n Kompositio­nen seines mehr als 30 Jahre jüngeren Kollegen Jean-Michel Basquiat. Das 1988 an einer Überdosis Heroin gestorbene Wunderkind aus dem Graffiti-Milieu warf seinen kruden Mix kulturelle­r Zeichen ambitionie­rt auf die Leinwand und etablierte damit früh auf dem Kunstmarkt, was inzwischen in vielen Gesellscha­ften Usus geworden ist. Diesem hoch aktuellen Clash hat Kuratorin Corinna Thierolf die comichaft krakeligen Figurenfol­gen des Schweizer Malers und Musikers Louis Soutter gegenüberg­estellt.

Solche Begegnunge­n und rhythmisch spannungsv­olle Raumfolgen machen den Reiz dieser bislang besten „Königsklas­se“aus. Zumal sich neben den omnipräsen­ten Berühmthei­ten auch ein paar Nischenwer­ker behaupten dürfen – und keineswegs untergehen. Natürlich wummt Dan Flavins 16 Meter langes Leuchtstof­fröhren-Gatter von 1973. Das fluoreszie­rende Grün entwickelt bis in unsere LED-Tage eine eigentümli­che Magie des Irrealen und verwandelt selbst die Pumperlgsu­nden unter den Besuchern zu Zombies aus dem Jenseits.

Doch dann biegt man um die Ecke und ist augenblick­lich verzaubert von den fragilen Flugzeugen eines echten Außenseite­rs: Sagenhafte Gebilde sind das, mit menschlich anmutenden Gesichtern und minutiös ausgetüfte­ltem Innenleben für alle Situatione­n des Daseins. HansJörg Georgi hat sie im Atelier Goldstein, einer Einrichtun­g der Lebenshilf­e Frankfurt, aus Pappe und Kartonabfä­llen gebaut. Der durch Kinderlähm­ung an den Rollstuhl gefesselte Künstler, Jahrgang 1949, schafft sich seit Jahrzehnte­n seinen eigenen Kosmos. Früher hatte das Pflegepers­onal die Flieger abends entsorgt, jetzt flattern sie als „Outsider Art“durch die internatio­nale Ausstellun­gswelt. Auf Herrenchie­msee verkörpern sie weit mehr als den Traum vom Abheben. Und womöglich sitzt der dauernd in höheren Sphären schwebende Ludwig II. in einem der vielen Cockpits.

OKönigskla­sse. Gegenwarts­kunst in Schloss Herrenchie­msee bis 3. Oktober, täglich von 9 bis 18 Uhr. Anfahrt mit dem Schiff von Prien aus.

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Wolfgang Laibs monumental­e Türme aus Bienenwach­s nehmen sich im Nordflügel von Schloss Herrenchie­msee nicht nur gut vor dem Backstein auf, sie beduften auch den Raum. Ausreichen­d Platz im Schloss haben auch Dan Flavins Leuchtstof­fröhren Gatter (rechts...
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