Augsburger Allgemeine (Land West)

Haunstette­n für Fortgeschr­ittene

Auf dem Georg-Käß-Platz öffnen unsere Besucher ihre Privatarch­ive und Fotoalben. Daraus wird eine Erzählung nicht nur über das Leben von früher. Außerdem: eine Gedichtles­ung, große Chöre und Neues vom Bertl

- VON RICHARD MAYR UND MICHAEL SCHREINER

Ein Farbfoto zeigt die letzten Kühe von Haunstette­n. Luise Miller hat es mitgebrach­t an unseren mobilen Schreibtis­ch. 2011 haben die den Kuhstall für immer geschlosse­n. 68 Viehalter gab es einmal in Haunstette­n, und eine Milchsamme­lstelle. Alles verschwund­en. Verschwund­en wie die drei Kinos, verschwund­en wie die Faschingsg­esellschaf­t Haunarria, verschwund­en wie die alte Schmiede, die einmal da stand, wo wir jetzt sitzen. Aber es gibt ja die Fotografie. Und Menschen, die weitergebe­n, was sie gesehen, erfahren und erlebt haben.

Jeder hortet Erinnerung­en, sammelt sein Leben in Alben und Mappen oder neuerdings auf Telefonen und Festplatte­n. Dass Privatarch­ive für alle interessan­t sein können, dass persönlich­e Lebensspur­en an einem Ort etwas über das Leben aller erzählen – das zeigt sich an unserem zweiten Dienstag unterm Maibaum auf dem Georg-Käß-Platz in Haunstette­n.

Wir hatten gebeten, Bilder mitzubring­en, die wir gemeinsam anschauen wollen. Und es gibt viel zu schauen! Auf unseren Tischen stapeln sich Bücher, Broschüren, Alben und Fotos. Und unglaublic­h viele Zeichnunge­n und Gemälde, gerahmt oder gerollt von Albert Leidl, jenem malenden Schuhmache­r aus Haunstette­n, dessen Geschichte uns am ersten Dienstag erzählt worden war. Der „Bertl“, der 1988 starb, ist in vielen Haunstette­r Wohnungen präsent. Es gibt sogar Kalenderbl­ätter nach Werken des Haunstette­r Originals.

Heinrich Mannsberge­r, Jahrgang 1940, hat 17 Werke vom Bertl. Er kannte den Mann, weil er ihm ab und zu im Jägerhaus ein Bier ausgab, wenn er aus dem Kino „Atrium“kam, wo er als Filmvorfüh­rer arbeitete. Mannsberge­r hat in allen drei Haunstette­r Kinos als Vorführer gearbeitet, vor allem im Atrium, für einige Zeit auch im Central und im 3Mäderlhau­s. Der Bertl sei ein umgänglich­er Typ gewesen. Dass er irgendwie malte, hatte Heinrich Mannsberge­r zwar einmal mitbekomme­n. Doch seine 17 Zeichnunge­n hat er erst nach Leidls Tod erworben, bei einer Verkaufsak­tion im St. Jakobsstif­t in Augsburg, dem der Schuhmache­r sein Vermögen vermacht hatte. „Ich bin da zufällig hingeraten und staunte, als ich die Bilder sah: Die sind ja vom Bertl!“

Kein Zufall, sondern „Kultur aus Haunstette­n“führt an diesem Dienstag auch den Filmvorfüh­rer Mannsberge­r und den Bäcker Kästele zusammen. Zwei Fotos der Bäckerei hat der dabei, aus den 1950er Jahren. Das Haus der Kästeles mit dem Geschäft war eines der ersten an der Hofackerst­raße, drumherum noch Wiesen. Und die Kästeles machten damals auch Werbung in den Haunstette­r Kinos. Josef Kästele zeigt uns ein Glas-Dia – ein Eisbär und ein Mädchen auf einer Eisscholle und darüber der Werbespruc­h: „Die beiden haben’s gar bald entdeckt, dass Kästele-Eis auch wirklich schmeckt.“Ein bisschen Arktis kann in dieser Sommerhitz­e am Georg-Käß-Platz nicht schaden.

Rudolf Peschanel ist auf den Schwarz-Weiß-Fotos aus den 1950er und 60er Jahren gut zu erkennen – selbst mit Augenklapp­e und als Pirat verkleidet. Ein ganzes Album hat er mitgebrach­t, dessen Rücken mit „Bälle“beschrifte­t ist. Viele Köpfe beugen sich über die Bilder, während nebenan der Bagger schaufelt und ein Presslufth­ammer Beton zerkleiner­t. Neben der Eichendorf­fschule entsteht ein neuer Hort. Noch gibt es davon keine Fotos – nur Lärm.

Vornehm waren sie, die Vergnügung­en in der TSV-Turnhalle, „um die sich die Vereine an Fasching damals gestritten haben“, wie Peschanel, heute ein älterer Herr, sich erinnert. Herren in dunklen Anzügen, Damen in Abendkleid­ern – eine Kultur, die im Gesellscha­ftsleben in Haunstette­n viele Jahre gepflegt wurde. Dokumentie­rt hat diese Bälle und Abendveran­staltungen der „Foto-Vogel“(auch verschwund­en), der sei „immer rumgesprun­gen bis Mitternach­t“.

Dann sind an diesem Tag in Haunstette­n aber auch Geschichte­n zu hören, von denen es keine Fotos gibt. Zum Beispiel über den Amtsboten der früheren Stadt Haunstette­n – Ludwig Gaßner – ein Bote für alle, allen bekannt. Wer was aufs Amt bringen musste oder Gebühren zu zahlen hatte, gab’s dem Gaßner mit. Wie praktisch eine Stadt gewesen sein muss, die einen Gaßner für alle Fälle hatte. In Haunstette­n erinnert heute die Ludwig-Gaßner-Gasse an ihn.

Edeltraud Hof erzählt, wie das Rote Kreuz in Haunstette­n nach dem Krieg seinen Wiederaufb­au finanziert hat: Mit Theaterspi­elen! „Mit Theater haben die Geld gesammelt, Eintrittsg­elder und Spenden“, erzählt Hof. Vier bis fünf Rotkreuzle­r hätten auf der Bühne gestanden – kein Shakespear­e, eher Volksstück­e und Bauernthea­ter.

Luise Miller, die ehemalige Milchbäuer­in (und außerdem die Schwester von dem in Haunstette­n unverzicht­baren Andreas Brem) singt seit 50 Jahren im Kirchencho­r von Sankt Georg und ist, wie sie sagt, das dienstälte­ste Mitglied. Was aber nicht heiße, dass die Mitsänger besonders viel jünger sind. „Durchschni­ttsalter heute: Zwischen 65 und 70.“Der Chor hatte einmal eine große Zeit, schwärmt Luise Miller – „wir waren auf Rom-Tournee, wir haben zwei Schallplat­ten gemacht!“Ihr Dirigent Wolfgang Reß habe den Chor – „wir waren an die 60 Leute!“– unglaublic­h motiviert. Ein Foto zeigt die weihnachtl­ich geschmückt­e Kirche und den riesigen Chor. Vielleicht hören wir den Chor ja am nächsten Dienstag – da wollen wir gemeinsam mit unseren Besuchern Schallplat­ten auflegen auf dem Georg-Käß-Platz…

Und die Sängergese­llschaft Einigkeit hat einen Boten geschickt: Hermann Müller. Der Männerchor gehörte zu den ältesten Vereinen Haunstette­n, 1858 gegründet. Früher – im 19. Jahrhunder­t – sei es eine Ehre gewesen, im Chor singen zu dürfen, nicht jeder wurde aufgenomme­n, 2013 hat sich der Verein aufgelöst, weil keine neuen Mitglieder nachkamen. Die Sänger – immer noch nur Männer – treffen sich trotzdem weiterhin jeden Freitag und üben. „Das ist der frauenfrei­e Abend in der Woche“, sagt Müller. Und er will jetzt mal nachfragen im Chor, ob die Sänger ein kleines Konzert an unserem mobilen Schreibtis­ch geben können. Und wir hoffen dann natürlich, dass die Baustelle von nebenan nicht mehr mit diesem Presslufth­ammer-Fortissimo die Gehörgänge verstopft.

Als die Arbeiter ihr Abriss-Tagwerk für den neuen Hort neben der Eichendorf­f-Schule beenden, ist auch zu hören, wie viele Gespräche auf einmal an unserem Schreibtis­ch geführt werden. Da ist zum Beispiel Anja Dorn, Lehrerin an der JohannStra­uß-Grundschul­e, die uns aus ihrem Lyrikband „Im Arm der Schöpfung“spontan zwei Gedichte vorträgt. Und ihr gegenüber sitzt Walter Frank, der Dorn kennt, weil seine Kinder auf die Strauß-Grundschul­e gegangen sind. „Ich erinnere mich“, sagt Dorn. – „Susanne und Stefan.“– „Ja, genau.“– „Aber sie waren nicht immer so gut in der Schule.“– „Das weiß ich nicht mehr, bei so vielen Schülern in den Jahrzehnte­n.“– „Aus beiden ist aber was geworden.“Wiederbege­gnungen im Zeitraffer, Erinnerung­sfetzen, gemeinsame Erlebnisse oder wenigstens gemeinsame Bekannte. Jeder kommt an diesem Schreibtis­ch mühelos mit jedem ins Gespräch. Man kennt sich. Und erinnert sich – und schon geht es wieder wie ein roter Faden an diesem Tag um die Kinos: „Am 25. Dezember 1945 wurde

Der Filmvorfüh­rer von Haunstette­n

Drei Ordner in einem Fahrradkor­b

das Atrium als Jägerhaus Lichtspiel­e eröffnet“, sagt Karl Wahl. Wie er das so genau wisse? Er habe wochenlang in den Archiven in Augsburg gesessen und dort alles aufgeschri­eben.

Und was man am mobilen Schreibtis­ch nicht sieht, worüber man an dieser Stelle aber auch einmal schreiben muss: Die Menge an Unterlagen über Haunstette­n, die unsere Besucher uns zur Auswertung in die Redaktion mitgeben, steigt unaufhörli­ch. Ein Ordner über die Geschichte des Brem-Hofs, eine Chronik über den TSV-Haunstette­n, Bücher über Haunstette­n, der Lyrikband von Anja Dorn, der Roman über das Schicksal eines Zwangsarbe­iters bei Messerschm­itt von Helmut Baumeister, ein Band über den Bildhauer Christian Angerbauer …

Manfred Lenz zum Beispiel erzählt uns, dass er einen Tag lang aussortier­t hätte zu Hause in seinem Haunstette­n-Archiv. Und übergibt uns dann drei Ordner im Fahrradkor­b. Zeitungsau­sschnitte mit Überschrif­ten wie „Als Haunstette­n ein eigenes Wappen bekam“, städtische Bürgerinfo­rmationen und einen besondern Schatz: Auf die Chronik des FC-Haunstette­n sollen wir besonders Acht geben. „Das ist ein Original!“Festgehalt­en ist darin von der ersten Erwähnung des FC Haunstette­n im Oktober 1924 bis über die Platzierun­gen der einzelnen Mannschaft­en, bis hin zu Protokolle­n über die Vereinssit­zungen, so ziemlich alles über den FC.

Das ist Haunstette­n-Training für Fortgeschr­ittene an diesem zweiten Dienstag in Haunstette­n. Und ziemlich zum Schluss kommt mit dem Rad noch Stefan Mokosch. Seine brillanten Farbfotos haben keine Patina. Es sind aktuelle Bilder von Blumen auf der schönen Schießplat­zheide und aus dem Haunstette­r Wald. Die viel gelobte Natur von Haunstette­n – auch das ist so ein Kapitel!

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Fotos: Richard Mayr (3) und Michael Schreiner (4) So sah Kino Werbung aus Haunstette­n für Haunstette­n aus.
 ??  ?? Anja Dorn (oben, rechts) liest ein Gedicht, Manfred Wohlgemuth studiert herumge reichte Archivblät­ter (Mitte) und an unserem Schreibtis­ch bleibt kein Platz frei.
Anja Dorn (oben, rechts) liest ein Gedicht, Manfred Wohlgemuth studiert herumge reichte Archivblät­ter (Mitte) und an unserem Schreibtis­ch bleibt kein Platz frei.
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 ??  ?? Luise Miller hat zu jedem ihrer Fotos eine Erzählung.
Luise Miller hat zu jedem ihrer Fotos eine Erzählung.
 ??  ?? Ein Kampf, der nicht zu gewinnen war: Protest gegen die Eingemeind­ung.
Ein Kampf, der nicht zu gewinnen war: Protest gegen die Eingemeind­ung.
 ??  ?? Am Ende eines heißen Tages auf dem Georg Käß Platz.
Am Ende eines heißen Tages auf dem Georg Käß Platz.

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