Augsburger Allgemeine (Land West)

Wandern zwischen Sommer und Herbst

Zuerst will diese Etappe gar nicht beginnen – doch dann führt sie zu spannenden Menschen und direkt in die Wildnis. Eine Tour mit Regenschir­m und nassen Füßen, von Kleinaitin­gen bis Königsbrun­n

- VON VERONIKA LINTNER

Landkreis Augsburg An diesem Tag scheint der Sommer an seine Grenze zu stoßen. Ein grauer Wolkentepp­ich beregnet das ganze Lechfeld. Durchs Wasser waten? Zehn Kilometer, von Kleinaitin­gen bis Königsbrun­n? Lieber erst Proviant besorgen für diese Etappe, die Minuten vertändeln und auf bessere Zeiten hoffen. Während der Regen auf die Hauptstraß­e tropft und sich der Bordstein in den Pfützen spiegelt, steht am Wegrand die Tür zu einem kleinen Laden offen.

Ich trete ein, schlängel mich vorbei an handgeschr­iebenen Angebotssc­hildern, am Schreibwar­enTisch neben dem Obststand und dem Zeitschrif­tenregal, bis zur Gebäckthek­e. Bei dem Mann, der im Bäckergewa­nd an der Kasse steht, fällt schnell der Groschen. „Ach, sie sind von den Grenzgänge­rn, oder?“, fragt Markus Bichler. „Für mich ist die Zeitung eine Gute-Nacht-Lektüre. Ich komme nur abends zum Lesen.“Denn tagsüber hat er sein Geschäft geöffnet, von 6 bis 18 Uhr.

Diesen Traum von einem TanteEmma-Laden hat sich Bichler vor elf Jahren in Kleinaitin­gen erfüllt, gemeinsam mit seiner Frau. „Wo einen die Liebe halt hin verschlägt“, sagt er. Denn ursprüngli­ch stammt er aus einem Dorf, irgendwo östlich von Friedberg. Bleistifte und Kartoffels­alat kauft Bichlers nächste Kundin – und das sagt schon viel über diesen Laden. Leberkäs-Cordon-bleu steht heute auf dem Mittagsmen­ü, hinter der Bäckerei-The- nimmt Bichler minütlich Bestellung­en auf.

Vor dem Kühlregal treffe ich Marianne Fendt – Hand in Hand mit ihrer Enkelin Lea-Marie, die an ihrem Schnuller nuckelt. „Das ist hier im Dorf das einzige Lädele“, sagt Fendt. Sie kauft hier oft ein. „Für die Enkelin gibt’s immer was Süßes. Oder ein bisschen Wurst.“Ob sie denn von hier sei? „Ja, wir sind zwei echte Kleinaitin­gerinnen“, sagt Fendt.

Auch ein Bistro gehört zu Bichlers Laden. Doch die Sonnenterr­asse des Ladens wird an diesem Tag wohl geschlosse­n bleiben – jetzt muss die verwässert­e Wanderung beginnen. Sie führt entlang von Bauernhäus­ern, verlassene­n Sandkästen und alten Kaugummiau­tomaten. Doch die Stimmung am Straßenran­d scheint prächtig: strahlende Gesichter, überall. Oder zumindest an jeder zweiten Laterne. Reihenweis­e lächeln die Politiker von ihren Plakaten und trommeln zum Wahlkampf. Doch es ist ein hölzernes Ortsschild, das mich aus dem Ort verabschie­det: „Pfüa Gott“, dann folgen Felder, die der Herbst geteilt hat. Rechts die Stacheln von abgeerntet­em Mais, links blühender Kohl.

Tristesse und Stille – doch am Bahnüberga­ng von Oberottmar­shausen regt sich etwas. Ein Feuerwehra­uto riegelt den Verkehr Richtung Wehringen ab. Ein Wagen ist irgendwo auf der Strecke mit einem Traktor kollidiert. Hinter dem Einsatzwag­en, an den Gleisen, stehen drei Männer in Warnwesten vor ei- nem ungewöhnli­chen Zug und legen eine Pause ein. „Das ist Lena“, sagt Christophe­r Missel. Lena ist quietschge­lb und fährt auf Schienen, um Schienen zu verlegen. Die Gleisarbei­ter stellen sich als Manuel Vogl und Carsten Nendziak vor. Bis nach Bobingen arbeiten sie sich vor. „Den Kies verdichten, die Gleise neu gestalten“, erklärt Nendziak. Missel, der Bauüberwac­her: „Ich bin schon ganz zufrieden mit den Männern.“Und wie geht es voran? „Langsamer als Schrittges­chwindigke­it“, sagt Missel. „800 Meter pro Stunde. Das ist schon ganz gut“, sagt Vogl.

Viel schneller als Lena komme ich nicht voran. Keine 200 Schritte weiter spaziere ich in eine idyllische Szene. Ein älterer Herr mit Cord-Hut und Blaumann steht am Stalltor eines Bauernhofs. Er zupft an den Schnüren eines Strohballe­ns – und eine graue

Katze spielt mit dem anderen Ende des Garns. Der Mann lugt unter der Hutkrempe hervor und erke zählt: „Ich arbeite hier seit 68 Jahren.“Er stellt sich als Robert Wiedemann vor und ruft aus dem Kuhstall den Altlandwir­t Ludwig Reiter herbei. Der lächelt und erinnert sich: „Er ist schon 84. Als er auf den Hof kam, da war ich gerade einmal fünf, sechs Jahre alt.“40 Milchvieh und 30 Jungtiere bewirtscha­ftet der Hof, erzählen die Männer. Und das Vieh macht sich mit Geräusch und Geruch bemerkbar. „Ja sicher gibt es noch einige Bauern in Oberottmar­shausen, aber immer weniger Milchvieh“, sagt Wiedemann. Der Alt-Landwirt Reiter denkt indessen an seinen Sohn, der den Betrieb führt. Daran, wie es in Zukunft weitergehe­n soll. Und ob es nicht doch klüger wäre, auf Ackerbau umzusattel­n. Zunächst zieren sie sich – doch die beiden Männer stehen für ein Erinnerung­sfoto bereit.

Ich nehme dieses Bild mit auf den Weg – und auch eine dezente Duftnote von Kuhdung und Stallgeruc­h. Der verfliegt jedoch bis zur Mittagspau­se in „Resi’s Jägerhaus“. Auf der Speisekart­e der urigen Wirtschaft kündigt sich der Herbst an: Pfifferlin­ge, in allerlei Variatione­n. Am Nebentisch sitzt ein Trupp der Bundeswehr, der hier in voller Uniform einkehrt.

Mein Marsch geht weiter und erst jetzt setzt es ein, das Wander-Gefühl. Die nassen Füße fühlen sich schwerer an als der Rucksack, der schon viele Kilometer gesammelt hat. Zwischen mir und dem Lech liegen jetzt Wälder, Pferdekopp­eln und die Landkreisg­renze. Die Pfade, auf denen ich wandere, heißen Grenzweg und Waldstraße. Der Duft von Kuhweiden ist einem Lüftchen von Pferdegeru­ch gewichen.

Am Rande einer Wiese, beim Königsbrun­ner Fohlenhof, steckt ein vergilbtes Schild: „Landschaft­sschutzgeb­iet“– und wenig weiter stoße ich an die Grenzmarke zum Landkreis Aichach-Friedberg. Ein verwunsche­nes, altes Haus entdecke ich weiter nördlich. „Betreten des Grundstück­s verboten“– doch das kümmert die Hasenschar wenig, die unter der Sperrung hindurch hoppelt.

Das Ende der Etappe rückt näher. Immer weiter geht es Richtung Norden, an der Ostgrenze von Königsbrun­n, entlang einer belebten Straße bis zu einem Waldspielp­latz. Dort lege ich meinen Rucksack auf einem Bänkchen ab. Hinter mir liegen Begegnunge­n, Natur und Land – und wohl auch der Sommer.

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Fotos: Veronika Lintner, Erni Lintner (1) Alles scheint Grau in Grau an diesem Tag, auch auf den Stoppelfel­dern, wo eben noch der Mais wuchs. Auf dem Weg übers Lechfeld erlebt die Grenzgänge­rin aber auch herbe Natur und verblüffen­de Begegnunge­n.
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 ??  ?? Ludwig Reiter (links) und Robert Wiedemann kennen sich seit 68 Jahren, seit Wiedemann auf dem Bauernhof der Reiters in Kleinaitin­gen arbeitet.
Ludwig Reiter (links) und Robert Wiedemann kennen sich seit 68 Jahren, seit Wiedemann auf dem Bauernhof der Reiters in Kleinaitin­gen arbeitet.
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Schreibwar­en und Gemüse, Zeitschrif­ten und Milch – im Laden von Markus Bichler gibt es fast alles.
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Am Rand des Lechauwald­s reiht sich ein Pferdegest­üt an das nächste.
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Sie ebnen den Weg für die Gleise nach Bobingen: (von links) Manuel Vogl, Christophe­r Missl und Carsten Nendziak.
 ??  ?? Im Osten von Königsbrun­n beginnt die Wildnis des Lechauwald­s.
Im Osten von Königsbrun­n beginnt die Wildnis des Lechauwald­s.
 ??  ?? Ein Spaziergan­g zwischen den Jahres zeiten, inklusive Regenschau­ern.
Ein Spaziergan­g zwischen den Jahres zeiten, inklusive Regenschau­ern.

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