Augsburger Allgemeine (Land West)
Sie haben das letzte Wort
Wer ist denn nun dieser Wähler, von dem am Sonntagabend wieder alle reden werden? Eine Suche nach dem unberechenbaren Wesen
Wenn am Sonntagabend die Parteistrategen wahlweise kleinlaut oder großspurig bunte Balken erklären, werden viele Sätze so beginnen: „Der Wähler hat entschieden …“Dabei haben die Damen und Herren in Wahrheit allenfalls eine vage Ahnung, wer das sein soll: der Wähler. Also rein statistisch ist die Antwort natürlich banal. Der Wähler (gibt es selbstverständlich auch weiblich und da fangen die Ungereimtheiten ja schon an) muss mindestens 18 Jahre alt sein und seinen Hauptwohnsitz seit mehr als drei Monaten im Freistaat haben.
Bei dieser Landtagswahl gibt es damit rund 9,478 Millionen Wahlberechtigte. Die könnten alle Wählerinnen oder Wähler sein. Sind sie aber nicht. Weil: Der Nichtwähler ist bekanntlich leider immer mehr im Kommen. Aber das führt jetzt zu weit. Der Wahlberechtigte jedenfalls wird erst zum Wähler, wenn er in ein Wahllokal geht, dort seine Kreuze auf den Wahlzettel kritzelt und selbigen dann in eine schmucklose Box wirft (siehe auch: Urnengang). Dazu kommt dann noch der Briefwähler, der vorab zu Hause abstimmt und das Ganze per Post schickt, weil er am Sonntag vielleicht lieber noch mal in die Berge fährt oder so. Schon vor fünf Jahren machte das übrigens jeder dritte Bayer so und diesmal könnten es sogar noch mehr werden.
So, das war jetzt der weitgehend unstrittige Teil. Aber Wähler ist ja nicht gleich Wähler. Es gibt schließlich Stammwähler und Wechselwähler, es gibt Protestwähler und Erstwähler. Es gibt Leute, die wählen strategisch und andere, die sich in der Wahlkabine noch schnell umentscheiden – quasi aus dem Bauch heraus. Aber der Reihe nach: Den Stammwähler mögen die Parteien besonders gerne, weil er zuverlässig immer wieder kommt. Wie an einen Stammtisch eben. Auch wenn es mal Streit gab oder das letzte Bier abgestanden war, am Ende rauft man sich doch immer wieder zusammen. Der Haken an der Sache mit den Stammwählern: Es gibt immer weniger davon. Besonders schmerzlich spüren das die Volkspartei
CSU und die frühere Volkspartei SPD.
Längst hat die große Wählerwanderung auch in Bayern eingesetzt. Massenhaft und unkontrolliert wechseln einstige Stammwähler einfach das politische Lager, bringen damit alles durcheinander. Am Sonntag dürfte davon neben den Grünen vor allem die AfD profitieren, die wie keine andere Partei eine weitere Gattung anspricht: den Protestwähler. Dem geht es mit seiner Stimme weniger darum, wen er damit wählt, sondern mehr darum, wen er nicht mehr wählt. Die größte Unberechenbarkeit geht vom Bauchwähler aus. Fast die Hälfte der Bayern ist angeblich noch unentschlossen. Diese Leute entscheiden sich erst, wenn sie den Stift schon in der Hand haben. Deshalb sind sie auch der schlimmste Angstschweißmacher für die Umfrageinstitute. Denn das Beste an der Demokratie ist doch, das letzte Wort hat immer: der Wähler. Michael Stifter