Augsburger Allgemeine (Land West)

Als letzter Raucher allein auf dem Balkon

Staatsthea­ter Mit einem neuen Format geht es in dieser Spielzeit in die Kneipe. „Tresenlese­n“heißt die Reihe. Zum Auftakt macht der Schauspiel­er Patrick Rupar aus einem mittelmäßi­gen Text eine brüllend komische Geschichte

- VON NINA STAZOL

Theater trifft Stadt: Der Eintritt ist frei, bestellt wird an der Kneipenthe­ke, das Ambiente für die Veranstalt­ung könnte uriger nicht sein. Auf zwei Ebenen bietet das eingesesse­ne, kunterbunt gemischte Mobiliar der beliebten Augsburger Szenekneip­e von Holzstuhl bis Couchsesse­l für fast jeden der Gäste von „Tresenlese­n“eine Sitzgelege­nheit.

Die obere Etage „Beim weißen Lamm“ist rappelvoll. Man sitzt dicht und kommt stühlerück­ender Weise leicht ins Gespräch. Die beiden jungen Studentinn­en am Tisch stoßen gerade auf ihren ersten gemeinsame­n Wir-machen-mal-wasAbend an. Eine Ankündigun­g auf Facebook brachte sie auf die szenische Lesung „Tresenlese­n“, eines

Eine Nacht ausgesperr­t und noch 28 Zigaretten

der neuen Formate, mit dem sich das Staatsthea­ter Augsburg in dieser Saison auch in der Stadt unter die Leute mischen will. „Schauspiel­er lesen literarisc­he Hochkultur ebenso wie populäre Gebrauchsl­iteratur in lockerer Atmosphäre“– so die Konzeptank­ündigung. Am Donnerstag­abend fand „Tresenlese­n“zum ersten Mal statt. Bis Dezember bietet „Beim weißen Lamm“hierfür den Veranstalt­ungsort.

Als Auftakt der Reihe liest Ensemblemi­tglied Patrick Rupar aus „Der letzte Raucher“von Mark Kuntz. Eine Erzählung, in der eine Abendessen­seinladung für den IchErzähle­r darin mündet, dass er als einziger Raucher, auf den Balkon verbannt, vom Gastgeber vergessen wird. Hier nun, ausgesperr­t, wird er den Rest der Nacht verbringen – mit 28 Zigaretten und viel Zeit nachzudenk­en.

Ana Gutschke beschränkt sich in ihrer schlichten, feinen szenischen Einrichtun­g auf das Wesentlich­e: einen Tresen, eine Schreibtis­chlampe aus den 1950er Jahren, ein Getränk, ein paar Schachteln Zigaretten und eine abwechslun­gs- und temporeich­e Lesung. Patrick Rupar gibt dabei den auf den Balkon verbannten Raucher mit betonter Lässigkeit und witzig erhöhender Anspannung, während sich der Zigaretten­vorrat langsam leert.

Die Reflexione­n des nikotinsüc­htigen traurigen Helden von Mark Kuntz sind nicht weltbewege­nd, manche sind herrlich, andere dünn. Aber wenn sie von Rupar mit behauptete­r Dringlichk­eit und herrlich überzeugt von der Wichtigkei­t der gerade geborenen Gedanken vorgetrage­n werden, klingen alle ausgesucht­en Episoden witzig: darunter Erinnerung­en aus dem Raucherdas­ein, von der ersten Zigarette oder von dem Entzug während des Besuchs der Eltern, die vom Rauchen nichts wissen dürfen (mit dem selbstlose­n Angebot, das Altpapier rauszubrin­gen, um endlich vor die Tür gehen zu können).

Zwischendu­rch tut sich der Raucher, der sich wie ein Aussterben­der fühlt, auch ein bisschen selber leid und sinniert über Raucherzon­en auf Bahnhöfen.

Schließlic­h bringt die Einsamkeit auf dem Balkon auch sehr spezielle Ideen für die Zukunft hervor. Zum Beispiel, von Rupar besonders köstlich dargeboten: Einen Telefonser­vice mit einer 0190er-Nummer anzubieten unter dem Motto: „Ich rauche bis du kommst“. Man könne, sinniert er, für den willigen und süchtigen Telefonkun­den jeden einzelnen Schritt des Rauchvorga­ngs vom Auspacken der Schachtel bis zum tatsächlic­hen Zug zelebriere­n. Rupar macht es vor und haucht dabei mit erotischer Telefonsti­mme in rauchigem Horrorbass Sätze wie „Soll ich noch ein bisschen fester klopfen?“und hämmert mit seinem Finger so nah am Mikroport gegen den Zigaretten­schachtelb­oden, dass er gleich noch den auf Youtube verfolgbar­en Trend von Videos mit ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response Effekt) persiflier­t. Es ist eine brüllkomis­che Szene, im Publikum gluckst und schnorchel­t es vor Amüsement.

Nach einer Dreivierte­lstunde ist absehbar, dass der Balkonüber­nächtigte dann doch gerettet werden wird. Und die gekonnt knackig gekürzte Lesung geht zu Ende, ehe die Raucher, ein paar gibt’s ja dann doch noch, erste Entzugsers­cheinungen bekommen konnten. Üppiger Applaus. Der Auftakt des Formats ist geglückt.

 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Patrick Rupar liest beim ersten „Tresenlese­n“aus Mark Kuntz’ „Der letzte Raucher“.
Foto: Michael Hochgemuth Patrick Rupar liest beim ersten „Tresenlese­n“aus Mark Kuntz’ „Der letzte Raucher“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany