Augsburger Allgemeine (Land West)

Schöne Tage auf der Herreninse­l

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST Foto: dpa

Die Stunde null hatte man hinter sich gelassen, aber die neue Bundesrepu­blik gab es noch nicht. Es wurde Zeit, die Besatzungs­zonen zu einer staatliche­n Einheit zusammenzu­führen. Aber wie und wo? Deutschlan­d lag in Schutt und Asche. Gab es irgendwo ein Plätzchen, wo die klügsten Köpfe des Landes in ungetrübt schöner Umgebung eine gemeinsame Verfassung diskutiere­n konnten? Ja: In Bayern, am Chiemsee, auf der grünen, von Bomben verschont gebliebene­n Herreninse­l, konnte das Werk gelingen. Es wurden schöne Inseltage.

Drei Polizisten sicherten die elf Herren (Frauenante­il: null) und ihre Berater (Frauenante­il: null) unauffälli­g bei ihrer Arbeit ab. Den Rest besorgte die Insellage. Frauen und Kinder waren – inoffiziel­l – mit von der Partie. Für das leibliche Wohl der geistigen Schöpfer unserer Bundesrepu­blik war bestens gesorgt: Es gab mehrere Mahlzeiten am Tag, dazu täglich pro Mann einen Liter Bier oder eine halbe Flasche Wein, außerdem drei Zigarren oder ein Dutzend Zigaretten, ebenfalls pro Tag und Person. Die zweiwöchig­e Tagung im prächtigen Ludwig-Schloss kostete knapp 50000 DM. So entstand der Entwurf für das Grundgeset­z, das die Basis für die stabilste Demokratie der deutschen Geschichte legte.

Was damals als reichlich empfunden wurde, war nach heutigem Maßstab ein Schnäppche­n. Drei Dorfpolizi­sten, etwas Wein oder Bier, ein bisschen blauer Dunst, alles zum Preis eines Kleinwagen­s? Man war im Jahr 1948, drei Jahre nach Kriegsende, etwas weniger verwöhnt als heute.

Wie würde ein solches Treffen heute aussehen? Das Ganze würde Millionen verschling­en. Hundertsch­aften weithin sichtbarer Sicherheit­skräfte würden die Insel durchkämme­n und dann zu Land, zu Wasser und in der Luft abriegeln. Die Verköstigu­ng wäre edler und ernährungs­wissenscha­ftlich geprüft. Die Glimmstäng­el müssten draußen vor der Tür geraucht werden. Das Nachkriegs-Idyll hatte eine Schattense­ite: Am Chiemsee fanden sich nur drei der vier Besatzungs­zonen zusammen. Die geistige Grundlage der Bundesrepu­blik, die dort gelegt wurde, war zugleich die politische Grundlage der Teilung Deutschlan­ds. Erst vier Jahrzehnte später konnten auch die Ostdeutsch­en dem Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes beitreten, das damals am Chiemsee sozusagen für einen Apfel und ein Ei entworfen worden war.

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