Augsburger Allgemeine (Land West)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (19)

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SFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

oll das Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu vertiefen?“

Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle, indem ich Sie mit den Schilderun­gen meiner Gefühle langweile.

Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.

Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigt­en sich meiner wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu Mute. Wie ein unheimlich­er Alb lag es auf meiner Seele und dunkel fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklic­hste aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtun­gen und Vorahnunge­n nicht den hundertste­n

Teil all des Elendes darstellte­n, das mir beschieden war.

Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlosse­n und ich mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringe­n. Da das Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte, beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See nach Plainpalai­s zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In unheimlich­er Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das Naturschau­spiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschrit­te. Bald war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ers- ten schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die Schleusen über mir.

Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlic­h brüllte. Er hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder erholt hatte, wandelte ich in der pechschwar­zen Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiede­nen Seiten aufgestieg­en. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des Sees.

Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen wie furchtbare­n Schauspiel­s freute. Dieser tosende Kampf in den Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut: „Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfei­er, dein Totengesan­g!“Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschl­ich. Ich stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in seiner gigantisch­en Größe, in seiner übermensch­lichen Häßlichkei­t das Scheusal, der entsetzlic­he Dämon, dem ich das Leben gegeben. Was wollte er hier? War er vielleicht (ich schauderte bei dem Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkei­t durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im Dunkel. Kein menschlich­es Wesen hatte Wilhelm getötet, er war es! Ein Zweifel erschien mir ausgeschlo­ssen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkei­t. Einen Augenblick dachte ich daran, den Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechte­n Wand des Mont Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalai­s erhebt, hinaufklet­tern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war verschwund­en.

Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwa­rze Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeite­n meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem Bett und ihr Verschwind­en. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt losgelasse­n, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte er denn nicht meinen Bruder getötet?

Ich kann nicht beschreibe­n, welche Angst ich in jener Nacht litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte. Das Wetter ließ mich ganz gleichgült­ig; ich erschöpfte mich im Durchdenke­n all des Leides und der Verzweiflu­ng, die mir noch bevorstand­en. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt? Mit starkem Willen und großer körperlich­er Kraft hatte ich es ausgerüste­t, die es nun zu blutigen Zwecken mißbraucht­e, wie die Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem Grabe zurückkehr­t, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb war.

Der Tag dämmerte herauf und ich wandte meine Schritte der Stadt zu. Die Tore waren schon geöffnet und ich eilte zu meines Vaters Hause. Anfangs trug ich mich mit der Absicht, sofort alles bekannt zu machen, was ich von dem Mörder wußte, und eine Verfolgung einleiten zu lassen.

Aber ich zögerte, wenn ich daran dachte, was ich zu erzählen hatte. Ein Wesen, das ich selbst gebildet und mit Leben begabt habe, hätte ich mitten in der Nacht in den unzugängli­chen Berghängen nahe meiner Heimatstad­t angetroffe­n. Auch das Nervenfieb­er, das mich gerade zur Zeit der Vollendung meines Werkes ergriffen hatte, diente nicht dazu, meiner Erzählung einen größeren Grad von Wahrschein­lichkeit zu verleihen. Ich wußte sehr wohl, daß, wenn ein anderer mir dieselbe Geschichte berichtete, ich sie für den Ausfluß einer überreizte­n Phantasie hätte erklären müssen. Außerdem würde ja die seltsame Natur des Wesens jede Verfolgung ausgeschlo­ssen haben, selbst wenn es mir gelungen wäre, meinen Vater überhaupt von der Notwendigk­eit einer Verfolgung zu überzeugen. Und welchen Ausgang würde eine derartige Unternehmu­ng haben gegen ein Wesen, das imstande war, die überhängen­den Felsen des Mont Salêve ohne weiteres zu erklimmen? Diese Erwägungen veranlaßte­n mich zum Schweigen.

Es mochte etwa fünf Uhr morgens sein, als ich das väterliche Haus betrat.

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