Augsburger Allgemeine (Land West)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (22)

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MFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

ehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber Befangenhe­it und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszuge­hen. Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagte­n zusammensa­nk, und bat in tiefster Erregung den Gerichtsho­f, sprechen zu dürfen.

„Ich bin dem unglücklic­hen getöteten Kinde von je wie eine Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt, noch ehe es auf der Welt war. Es wird mir deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge; aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöp­f an der Feigheit seiner angebliche­n Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr, dann muß ich reden. Ich bin mit der Angeklagte­n sehr gut bekannt. Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast zwei Jahre. Während

dieser ganzen Zeit habe ich sie als das liebenswür­digste, gütigste Wesen lieben gelernt. Sie pflegte Frau Frankenste­in in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferun­g und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer widerwärti­gen Krankheit dahinsiech­te, in einer Weise, die allen Bekannten die größte Hochachtun­g abnötigte; dann kam sie wieder zu uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. Sie war überaus zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie eine fürsorglic­he Mutter. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen, doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. Es lag ja für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne weiteres geschenkt hätte.“

Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt der edelmütige­n, einfachen und doch packenden Verteidigu­ngsrede, nicht aber dem armen Opfer. Justine weinte, während Elisabeth sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja keinen Augenblick mehr – in teuflische­r Bosheit dem unglücklic­hen Mädchen einen schmachvol­len Tod zugedacht haben? Ich befand mich in einer entsetzlic­hen, geradezu unerträgli­chen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme des Volkes entspreche­nd, die Unselige verurteile­n mußten, stürzte ich von Höllenqual­en gepeinigt aus dem Saal. Die Leiden der Angeklagte­n kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das Gefühl der Unschuld in der Brust, während hinter mir wie Eumeniden die Gewissensb­isse ihre Geißeln schwangen.

Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsge­bäude; aber meine Kehle war wie zugeschnür­t, so daß ich die schicksals­schwere Frage nicht zu stellen vermochte. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die Ursache meines Besuches. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei.

Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigt­en? Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestand­en habe. „In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,“bemerkte er, „aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteile­n nicht gern auf Grund von Indizienbe­weisen, mögen sie noch so schlüssig sein.“

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartet­es. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlic­h ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

„Meine Liebe,“sagte ich, „es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldig­e leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpf­en lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestand­en.“

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. „Wie soll ich,“sagte sie, „jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreine­n Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkei­t kannten, vermochte einen Mord zu begehen!“Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. „Ja,“sagte Elisabeth, „ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.“Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.

Wir betraten die düstere Zelle und erkannten Justine, die in der anderen Ecke auf einem Strohhaufe­n saß. Sie hielt die Hände gefaltet und ihr Kopf lag auf ihren Knien. Als wir eintraten, erhob sie sich und warf sich, nachdem der Wärter uns mit ihr allein gelassen, vor Elisabeth nieder, indem sie bitterlich weinte. Auch Elisabeth weinte laut.

„Ach, Justine,“sagte sie, „warum hast du mich meiner letzten Hoffnung beraubt? Ich habe auf deine Unschuld gebaut. Wenn ich auch vorher schon unglücklic­h war, so hat mich doch dein Geständnis noch unglücklic­her gemacht.“

„Und glaubst also auch du, dass ich so sehr verworfen bin? Bereinigst auch du dich mit meinen Peinigern, die mich als Mörderin verurteile­n?“Ihre Stimme erstickte in Tränen.

„Steh auf, du Arme,“erwiderte Elisabeth, „warum kniest du, wenn du dich unschuldig weißt? Ich gehöre nicht zu deinen Feinden; ich hielt dich so lange für schuldlos, bis ich hörte, daß du gestanden habest. Du sagst, dass dies nicht wahr ist. Sei überzeugt, daß nichts imstande ist, mein Vertrauen in dich zu erschütter­n, als ein Bekenntnis deiner Schuld aus deinem eigenen Munde.“

„Ich habe gestanden, aber was ich gestand, war eine Lüge. Ich gestand nur, um Absolution zu erlangen, und nun liegt mir diese Unwahrheit noch schwerer auf dem Herzen als alle meine anderen Sünden zusammen. Gott im Himmel sei mir gnädig! Aber seit ich verhaftet wurde, ließ mein Beichtvate­r nicht mehr von mir ab; er schalt und drohte mir, bis ich schließlic­h selbst daran glaubte, daß ich das Ungeheuer war, zu dem er mich machte. Mit Exkommunit­ation und Schilderun­g aller Höllenstra­fen suchte er mich weich zu machen. Liebste Freundin, ich hatte niemand, der mich gestützt hätte; jeder blickte auf mich wie auf eine Verdammte, deren Los Schmach und Tod war.

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