Augsburger Allgemeine (Land West)

Sie ist die treueste Schülerin im Nähkurs

Hobby Vor 32 Jahren kam Marianne Schreitmül­ler zum ersten Mal in die Nähstube von Sylvia Riegel. Inzwischen ist sie 90 Jahre alt und immer noch dabei. Nur im Winter setzt sie aus

- VON ELENA WINTERHALT­ER

Mit konzentrie­rter Miene nestelt Marianne Schreitmül­ler an der Nähmaschin­e herum. Ein Faden hat sich verheddert und läuft nicht so, wie er soll. „An manchen Tagen seh’ ich halt nicht mehr so gut“, sagt die 90-Jährige. Heute klappt’s. Nach etwas Ruckeln und Ziehen rattert die Nähmaschin­e wieder los. Gut so. Marianne Schreitmül­ler will heute nämlich noch etwas fertig bringen, wie sie sagt.

Seit 32 Jahren sitzt Marianne Schreitmül­ler einmal die Woche im Keller eines Reihenhaus­es in Haunstette­n und näht. Das ist nicht irgendein Keller, sondern die Nähstube von Sylvia Riegel. An den Wänden stapeln sich die Stoffe und in einem großen Raum stehen ein Dutzend Nähmaschin­en. Hier hat sich Schreitmül­ler schon viel geschneide­rt. Kostüme, Jacken, Mäntel, Hosen. „Gekauft hab ich schon lange nichts mehr“, sagt sie und zeigt auf die feine braune Stoffhose und das Oberteil aus hellem Jerseystof­f – beides selbst genäht. Beides sitzt perfekt. Aber eigentlich könne sie das ja gar nicht richtig, sagt Schreitmül­ler.

„Ich wollte nebenbei etwas machen, das praktisch ist“, sagt sie. Zuerst hat sie einen Volkshochs­chulkurs besucht und kam dann zu Sylvia Riegel. „Es ist einfach schön, unter Leuten zu sein und nicht alleine zu Hause zu sitzen.“Auch als ihr Mann vor sechs Jahren plötzlich starb, war der Nähkurs eine Ablenkung. In all den Jahren hat sie nur für sich selbst genäht. Die drei Söhne gehen leer aus. Die Sachen seien ja nicht gut genug, urteilt Schreitmül­ler.

Geboren und aufgewachs­en ist Marianne Schreitmül­ler in Mönchengla­dbach. Obwohl sie bereits vor 67 Jahren mit ihrem Mann nach Göggingen zog, hört man den rheinländi­schen Einschlag, wenn sie spricht. Seit sie nicht mehr selbst Auto fährt, nimmt sie eine Kollegin aus dem Nähkurs mit. Und wenn das mal nicht geht, hat Sylvia Riegel ihre treueste Kundin auch schon selbst abgeholt. „Seit ich mich selbststän­dig gemacht habe, ist sie schon dabei“, sagt Riegel. Da bekommt man einiges voneinande­r mit. Auch, weil man sich natürlich neben dem Nähen austauscht. Über Kindererzi­ehung, Enkel, Kuchenreze­pte.

Heute ist allerdings etwas anderes Thema Nummer eins. Alle paar Jahre veranstalt­et Sylvia Riegel mit ihren Kursteilne­hmern eine Modenschau. Mit selbst genähter Kleidung natürlich. Was genau sie am 16. November im Pfarrsaal St. Pius in Haunstette­n präsentier­en möchte, weiß Schreitmül­ler noch nicht. „Vielleicht das grüne Kostüm. Oder das etwas grobere mit ausgestell­tem Cordrock.“Sie hätte sich gerne auch noch einen Mantel für den Winter genäht. Aber das schafft sie dieses Jahr nicht mehr. Heute ist der letzte Kurs vor den Herbstferi­en. Danach pausiert Schreitmül­ler bis Ostern. „Im Winter ist zu viel zu tun. Man muss ja Schneeräum­en und so“, sagt sie.

Das angefangen­e Oberteil möchte sie deshalb heute noch fertig machen. Die Ärmel müssen angesteckt werden – eine sehr diffizile Angelegenh­eit. Aber die 90-Jährige lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Kursleiter­in schaut ihr immer wieder über die Schulter, zupft hier und da etwas zurecht. „Schaut gut aus“, sagt Riegel. Schreitmül­ler lächelt fast ein wenig verlegen.

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Foto: Elena Winterhalt­er Marianne Schreitmül­ler näht sich ihre Kleidung selbst – auch das Oberteil, das sie auf dem Foto trägt.

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