Augsburger Allgemeine (Land West)
„Man muss für den Beruf brennen“
Pflege Personalmangel, Zeitdruck und ein niedriges Gehalt: Vorbehalte gegen Pflegeberufe sind noch immer groß. Eine Auszubildende berichtet, warum sie sich dennoch für den anspruchsvollen Beruf entschieden hat
Günzburg Durch seine Nase führt ein Schlauch bis in den Magen. Richtig sprechen kann er nicht, sein linker Arm ist taub. Die Augen glasig, die Haut fahl. Das Schicksal meint es gerade nicht gut mit Xaver Ernst*. Schlaganfall, mit 77 Jahren. „Was trinken“, stammelt er in Richtung der Pflegerin, die neben seinem Bett steht. „Sie haben doch Schwierigkeiten beim Schlucken, ich kann Ihnen jetzt nichts geben“, antwortet Lena Kugelmann. Für die junge Pflegeschülerin ist Xaver Ernst der erste Patient an diesem Tag, einige weitere sollen folgen.
Das morgendliche Waschen der Patienten gehört zu den wichtigsten Arbeiten der 19-Jährigen im Schlaganfall-Zentrum in Günzburg. Obwohl ihr heutiger Patient bereits wieder eingedöst ist – ihm fehlt nach seinem Schlaganfall die Kraft, lange wach zu bleiben – sucht sie den Dialog, erklärt mit fester Stimme freundlich jeden weiteren Schritt. „Jetzt nehmen wir mal die Bettdecke zur Seite und fangen an“, sagt sie und streicht sich ihre braunen Haare hinter die Ohren. Sie bemüht sich, Ruhe auszustrahlen. „Das ist für mich wichtig, genau wie für den Patienten“, erklärt sie.
Der Blick auf den Therapieplan verrät: Viel Zeit bis zur nächsten Behandlung bleibt beiden nicht. Patient Xaver Ernst wird viele weitere Termine haben, Bewegungs- und Ergotherapie etwa. Auch Lena Kugelmann
„Wenn alle Abteilungen zusammenarbeiten, ist das ideal – aber zeitintensiv.“ Pflegeschülerin Lena Kugelmann
muss gerade am Morgen, wenn die Patienten gewaschen und auf den Tag vorbereitet werden, auf die Uhr schauen. „Wichtiger, als sich zu beeilen und in der Folge hektisch und lieblos zu sein, ist für mich das Zwischenmenschliche“, sagt sie. Obwohl zu ihrer Stellenbeschreibung auch unangenehme Aufgaben gehören, überwiegt für sie das Gefühl, Menschen helfen zu können.
Es ist kein einfacher Beruf, den sich Lena Kugelmann ausgesucht hat. Der Druck auf die Pflegekräfte wächst, die Kritik der Patienten ebenso. Mangelnde Fachkenntnisse der Pfleger, Personalmangel auf der Station, Abrechnungsbetrug in der Intensivpflege, Sprachbarrieren mit ausländischen Hilfskräften – die Beschwerdestelle des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) hat alle Hände voll zu tun. Viele Menschen melden Vorfälle, beklagen die schlechte Qualität in der Pflege. Allein in Bayern gingen
461 Beschwerden im vergangenen Jahr ein. Und damit über 100 mehr als noch vor zehn Jahren. 278 monierten schlechte Bedingungen in stationären Einrichtungen. Der Rest war mit der Pflege in den eigenen vier Wänden nicht zufrieden.
Im Fokus steht das Pflegepersonal. Doch auch das hat allen Grund zu klagen. Die Vorwürfe sind seit Jahren unverändert. Hoher Zeitdruck, geringer Verdienst, Überstunden. Schwestern und Pfleger kommen kaum ihrer Arbeit hinterher, müssen zu viele Patienten pro Arbeitsschicht betreuen. In der Folge steigt die körperliche und mentale Belastung.
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Günzburg beträgt drei Wochen. Ergo- und Physiotherapeuten arbeiten hier zusammen mit Logopäden, Neuropsychologen, Ärzten und den Pflegekräften. „Wenn jemand eine Wortfindungsstörung hat, fällt das in der Therapie eher dem Logopäden auf als vielleicht der Pflegekraft. Das ist einer von vielen Vorteilen“, erklärt die
19-Jährige. Doch sie betont auch: „Wenn alle Abteilungen zusammenarbeiten, ist das ideal – aber zeitintensiv.“
Auf Station soll der Patient vom manchmal eng getakteten Arbeitstag der Pfleger nicht viel mitbekom- men. Er soll nicht das Gefühl haben, alleingelassen zu werden, weil alle beschäftigt wirken. „Nicht nur am Patienten vorbeilaufen, sondern sich auch mal drei Minuten nehmen, reicht meiner Erfahrung nach aus, um ihm das Gefühl zu geben, ihn wertzuschätzen, ihm respektvoll zu begegnen und um seine Emotionen zu teilen.“Trotz langer Tage dürfe das nicht zu kurz kommen. Auf dieser Station geht eine gewöhnliche Schicht für Lena Kugelmann von 6.30 bis 17.30 Uhr. „Mehr als drei Tage am Stück arbeitet man aber nicht. Man bekommt einen oder zwei Tage frei. Das wechselt immer ab.“Sie empfinde genau diesen Wechsel als angenehm.
Ist das Bild der Pflege mit Perso- nalmangel und Zeitdruck in der öffentlichen Wahrnehmung also schief? Fragt man Claus Fussek, kommt, ohne zu zögern, ein klares Nein. Der 65-Jährige gehört seit vier Jahrzehnten zu den kenntnisreichsten Kritikern der Pflegeprobleme in Deutschland und betont: „Tag für Tag wird in der Pflege die Würde alter Menschen tausendfach verletzt.“In diese Kritik stimmt auch der Hildesheimer Pflege-Azubi Alexander Jorde ein. Mit seinem Auftritt in der ARD-Wahlarena katapultierte er das Thema Pflege direkt in den Wahlkampf und sorgte für reichlich mediales Aufsehen. Seine Forderungen sind eindeutig: mehr Pflegepersonal, attraktivere Gehälter, verkürzte Arbeitszeiten.
Nur so könne der hohen psychischen und körperlichen Belastung in Pflegeberufen Rechnung getragen werden. Die Beschäftigten in bayerischen Pflegeheimen sind vergangenes Jahr so oft krankgeschrieben worden wie noch nie. Das belegt die AOK Bayern. Der Krankenstand in den Pflegeberufen ist im Schnitt um rund die Hälfte höher als bei allen anderen Beschäftigten in Bayern. Auffällig ist der Grund der Krankschreibungen – oft sind es körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen.
Auch Lena Kugelmann kennt die körperliche Belastung. Da ihr Patient bettlägerig ist, muss sie sein gesamtes Körpergewicht auf die Seite verlagern, um ihn am Rücken zu waschen. Sie greift ihn an seinem Arm und stemmt sich mit ihrem eigenen Gewicht dagegen. „Für Außenstehende wirkt das vielleicht etwas rau, aber man muss bestimmt und zielgerichtet arbeiten“, sagt sie. Jetzt fehlt nur noch ein neues T-Shirt. „So, immer daran denken, dass sie, so gut es geht, mithelfen. Wir wollen ja ihre Ressourcen nutzen, die sie noch haben.“
Ob die Wiedereinführung der Wehrpflicht wie auch ein verpflichtendes soziales Jahr die Situation Hilfsbedürftiger verändern würde? Lena Kugelmann hält von einer Verpflichtung für den Pflegeberuf nicht viel: „Man muss für den Beruf brennen, anders geht es nicht.“Ihr Feuer wurde schon in ihrer Kindheit entfacht. Mit alten Menschen könne sie eben gut umgehen. In der Schule sei der Entschluss dann endgültig für einen Beruf in der Pflege gefallen.
Nun, nach einem Jahr Krankenhauserfahrung, sagt sie offen: „Es gibt einen Pflegenotstand, ja, um diese Erkenntnis als Azubi herumzukommen, ist eigentlich unmöglich. Vor allem medial ploppt das Thema ja immer wieder auf.“Für sie persönlich überwiegen jedoch die positiven Seiten ihres Berufs, betont sie.
Dass sich der Nachwuchs trotz negativer Schlagzeilen nicht vom Beruf abschrecken lässt, zeigt eine Erhebung des Statistischen Bundesamts: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Anfänger fast verdoppelt und liegt aktuell bei
63000. Hauptsächlich Frauen erlernen nach wie vor einen Pflegeberuf. Nur 22 Prozent der neuen Auszubildenden sind männlich.
Geht es nach dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, wird sich die Ausbildung in den kommenden Jahren verändern (siehe Infokasten). Vorgesehen ist unter anderem, dass sich die Auszubildenden erst im dritten Ausbildungsjahr entscheiden, ob sie die allgemeine Ausbildung fortsetzen oder sich auf die Pflege von Kindern oder alten Menschen spezialisieren. „Der steigende Arbeitsaufwand lastet auf immer weniger Schultern“, sagt er. „Das Ganze ist ein Teufelskreis und am Ende geht es natürlich zulasten der Pflegebedürftigen.“
Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verkündete Anhebung des Pflegebeitrags soll das drei Milliarden Euro große Defizit in der Pflege abfedern. Kritiker werfen Spahn vor, dass dieser Schritt bei weitem nicht zukunftssicher ist. Spahns Rezept: Ab Januar schon sollen in den kommenden Jahren 13000 Pflegekräfte in der stationären Altenpflege neu eingestellt werden. Das Geld für das Personal soll von der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Pflegeversicherung kommen. Auf diese Weise sollen zur Finanzierung der zusätzlichen Stellen die Pflegebedürftigen nicht belastet werden.
Wie sich die Situation weiterentwickeln wird, ist offen. Lena Kugelmann will sich nach ihrer Ausbildung spezialisieren. „Eventuell hänge ich ein duales Studium der Interprofessionellen Gesundheitsversorgung an“, sagt sie und blickt auf ihre Uhr. Fast eine Dreiviertelstunde ist verstrichen, Zeit, sich um den nächsten Patienten zu kümmern. Das Kopfteil von Ernsts Bett stellt sich nach oben, Sitzbett in der Fachsprache, damit er aufrecht sitzt „und auch etwas mitbekommt von dem, was hier so passiert“, sagt die
19-Jährige.
Das Frühstück zusammen mit anderen Patienten im Speisesaal wird er wegen seiner Bettlägerigkeit verpassen. Doch zwei Stunden später wird er wieder von Lena Kugelmann Besuch bekommen. Dann werden Vitalwerte wie der Blutdruck und Puls gemessen. Während in einem Nebenzimmer ein Patient läutet, desinfiziert sich die Pflegeschülerin die Hände, verabschiedet sich und läuft schnurstracks ins Nebenzimmer. Der nächste Patient wartet.