Augsburger Allgemeine (Land West)
Augsburger erzählen, was sie mit anderen erleben
Diese sechs Männer und Frauen kommen in ihrem Beruf mit allen Schichten der Bevölkerung zusammen. Wie sich aus ihrer Sicht Umgangston und Arbeitswelt verändert haben
Wie hat sich der Zusammenhalt in der Gesellschaft verändert? Hat er das überhaupt? Dazu haben wir sechs Augsburger befragt, die seit über 20 Jahren in Berufen arbeiten, in denen sie mit allen Gesellschaftsschichten in Berührung kommen. Sie schauen zurück, versuchen ihre Erfahrungen einzuordnen und geben auch Einblick in die Veränderungen ihrer eigenen Arbeitswelt.
„Ey, Bulle, hast du auch eine Knarre?“Hauptkommissarin Sandra Mayer, 42, die seit 1993 im Polizeidienst arbeitet, bekam die freche Frage von einem Vierjährigen gestellt. Gegenfrage: In welchem Umfeld wächst so ein Junge auf? „Bulle“, „Bullenstaat“, „Bullenschweine“– alles Beschimpfungen aus einer Zeit, als Polizisten ausschließlich männlich waren und die RAF noch ihr Unwesen trieb. Als Sandra Mayer zur Polizei kam, musste sie sich noch beweisen. Frauen im Dienst waren neu. Heute spielt das keine Rolle mehr. Sie sieht die Akzeptanz der Polizei in der Bevölkerung eher wie eine Wellenbewegung. Ausgehend von großen Ereignissen, die auch medial starke Beachtung finden. „Momentan werden wir wieder kritischer gesehen“. sagt sie. Ob es mit den Vorkommnissen der Kölner Silvesternacht zusammenhängt? Vielleicht. Sie will sich da nicht festlegen. Sie trifft meistens in Extremsituationen auf die Menschen, aber die Uniform schützt sie immer weniger, weil der Respekt vor der Polizei nachlässt. Sie erzählt, auf Nachfrage, von ihren Verletzungen, die sie bislang erlitten hat. Schwere Verletzungen, die erstaunen. Persönliche Beleidigungen gibt es als Zugabe täglich.
Die Beiläufigkeit, mit der Sandra Mayer dies erzählt, macht die erschreckende Normalität dahinter erst deutlich. Den Umgang mit Männern aus patriarchisch geprägten Kulturkreisen, wo eine Frau nicht so viel zählt, nimmt sie mit Humor. Schwieriger sind für sie die „Einsätze“, bei denen überforderte Erziehungsberechtigte die Polizei bitten, das eigene Kind zu maßregeln. „Das ist pädagogisch sehr problematisch und auch bedenklich, dass Eltern so wenig Einfluss auf ihre Kinder haben“, sagt Sandra Mayer. Mit Sorge blickt sie auf die zunehmende Brutalität bei Schlägereien. Besonders die Drogen-Kräu- führen zu jeglicher Enthemmung.
Diese Sorge teilt auch Friedhelm Bechtel, der seit 1989 bei der Berufsfeuerwehr in Augsburg arbeitet. „Das ist beängstigend, wie sehr zugeschlagen wird und welch furchtbare Verletzungen manche nach Schlägereien haben. Da sind ganz klar Grenzen gefallen. Es wird so lange getreten, bis sich der am Boden nicht mehr bewegt“, sagt Bechtel.
Eine Erklärung dafür hat er auch. „Ich glaube, es sind die Filme und Videospiele, die dazu führen, dass die Brutalität so sehr zugenommen hat“, sagt Bechtel. „1989 gab es noch Kollegen, die den Krieg miterlebt haben. Die waren ja anders geprägt als wir und es gab noch militärisches Verhalten in der Feuerwehr. Heute wird viel mehr über das Können und die Kompetenz des Einzelnen geregelt.
„Etwas fordern, was man selbst nicht kann, funktioniert heute nicht mehr“, sagt Bechtel. Die Bereitschaft, zu helfen, ist heute auch noch da und das Gaffen und Behindern hat es früher auch schon gegeben. „Das ist kein neues, gesellschaftliches Phänomen, der Mensch ist neugierig“, sagt er. Nach wie vor genießt die Feuerwehr beim Bürger ein großes Ansehen und ein altmodisches Dankeschön gibt’s auch noch. „Im Verkehr spüren wir die enorme Verdichtung. Bei Rettungseinsätzen kommen wir manchmal nicht durch, weil so eng geparkt wird, dass kaum für unsere Fahrzeuge bleibt“, sagt Bechtel.
„Als ich anfing, gab es keine einzige Frau als Bus oder Straßenbahnfahrer“, sagt Wilhelm Haggenmüller, 51. Er ist seit 1994 bei den Stadtwerken Augsburg Fahrer.„Wir konnten es kaum glauben, dass eine Frau in dem Beruf arbeitet. Heute ist es das Normalste von der Welt“, sagt er. An seinem Beruf kann man anschaulich zeigen, wie sehr das Verhältnis zwischen Mensch und Technik an Grenzen der Verständigung stoßen lässt. Den Fahrern und Fahrerinnen wird oft Bösartigkeit oder Gleichgültigkeit vorgeworfen, wenn sie bei der Ausfahrt nicht mehr halten oder die Tür nicht öffnen, wenn jemand noch schnell mit will. Doch es geht technisch gar nicht anders. „Die Verkehrsverdichtung und Sicherheit lässt es nicht mehr zu. An Ampeln haben Straßenbahnen, wegen der Dichte des Verkehrs, Zwangshalte. Das können wir Fahrer gar nicht beeinflussen“, sagt Haggenmüller. Vielleicht ist es auch die zunehmende Technik und Schnelligkeit, die viele Menschen ratlos macht und in ein anderes Sozialverhalten zwängt. „Die Hilfsbereitschaft hat schwer nachgelassen, auch Frauen sind aggressiver geworden“, sagt Haggenmüller. Schlimm ist es für die Kontrolleure. Es kommt immer wieder vor, dass sie nach Angriffen im Krankenhaus behandelt werden müssen.“Haggenmüller findet deutliche Worte. „Das gab es bei uns früher nicht. Jetermischungen manden gegen den Kopf treten, mit dem Messer stechen.“
Dr. Oliver Baur, 57, ist seit 1995 als Hals-Nasen-und Ohrenarzt niedergelassen. „Die Patientenzahlen haben enorm zugenommen“, sagt er. Allerdings sind die Patienten heute „anders“krank. Es haben sich andere Krankheitsbilder ergeben. Die vereiterten Mandeln, Mittelohrentzündung, vereiterte Nebenhöhlen und so weiter kommen immer seltener vor. Heute stehen funktionelle Störungen im Vordergrund. Schwindel, Tinnitus, Hörsturz. Psychosomatische Störungen. „Ich glaube, dass viele Menschen mit ihrem Leben unzufrieden sind. Mit schwierigen, überfordernden Berufsbedingungen zu kämpfen haben. Viele sehen ja gar nicht mehr, was sie da arbeiten, schieben Zahlenkolonnen im PC herum und sehen keine erkennbaren Ergebnisse. Das braucht man aber für sich als Korrektiv“, sagt der Mediziner. Für die Zukunft sieht er seinen Beruf mit Skepsis. „Die Rahmenbedingungen haben sich so sehr verändert, dass es in Zukunft sicher Polikliniken, riesige Gemeinschaftspraxen und Medizinische Versorgungszentren geben wird, die den bürokratischen Aufwand bewältigen können. Die Einzelpraxis wird sicher aussterben“, sagt Baur.
Den Lehrerberuf wird es weiterhin geben. In ihm hat Karl Pösl, 65, bis Februar 2018 als Grund-und MittelPlatz schullehrer 35 Jahre gearbeitet. Er geht mit der Politik hart ins Gericht. „Sie hat das Schulsystem so zergliedert, dass es zu einer „sozialen Segregation“gekommen ist“. Zu einer Trennung. „Private Schulen werden ja auch vom Staat gefördert. Eltern, die es sich leisten können, zahlen dann Schulgeld, um angenommene Nachteile wie Inklusion und Klassen mit hohem Migrationsanteil zu umgehen.“Die Erfahrung an Pösls Schule war, „dass sich viele Eltern aus der Erziehung komplett verabschiedet haben“, wie er sagt. Zum Teil aus persönlicher Überforderung oder wenn Kinder aus einem anderen Kulturkreis kommen, wo es üblich ist, Kinder körperlich zu bestrafen. „Unser liberales System deuten sie als Schwäche“, sagt Pösl. Angemahntes Fehlverhalten der Kinder wird von den Eltern oft nicht als Fehlverhalten bewertet, sondern sie verstehen es als Aufruf, gegen die Schule zu kämpfen. „Das ist aber unabhängig von der Herkunft“, betont er. „Dabei brauchen wir mehr Miteinander. Ich wünsche mir auch, dass meine zukünftigen Kollegen mehr in Informatik und Neuen Medien ausgebildet werden. Hier wird mehr Kompetenz gebraucht, damit diese Kinder nicht ganz verloren gehen.“
Dorothea Schmid, 59, arbeitet in einem der wenigen Berufe, in dem Frauen und Männer schon lange gleichberechtigt miteinander arbeiten. Sie ist Teamassistentin im Krankenhaus und hat 22 Jahre in der Notaufnahme gearbeitet. Sie bringt noch einmal zum Ausdruck, was alle Befragten sagten, dass die Menschen, in ihrem Fall Patienten, viel ungeduldiger geworden sind. „Warten kommt im System, besonders bei jungen Menschen, gar nicht mehr vor“, sagt sie. „Dabei kumuliert es besonders in der Notaufnahme, wo zu den eigentlichen Notfällen Patienten kommen, die da gar nicht hingehören. Schnupfen, Husten, Durchfall, Spreißel im Finger sind keine Erkrankungen für die Notaufnahme“, sagt sie. „Sogar wenn Kinder vorgezogen werden bei der Behandlung, wird gemeckert. Ich beobachte eine Grundaggressivität, die es früher so nicht gegeben hat“, sagt Schmid. Woran liegt das? „Ich glaube, die Menschen erwarten einfach zu viel vom Leben. In der virtuellen Welt ist alles sofort verfügbar und das überträgt sich auf das normale Leben.“