Augsburger Allgemeine (Land West)

Hilft nur Gewalt gegen Gewalt?

Der Augsburger Intendant inszeniert­e in Weimar das richtige Stück am richtigen Ort zur richtigen Zeit

- VON RÜDIGER HEINZE

Welch ein historisch­er Schauplatz: Weimar mit seiner Theaterges­chichte, an der in erster Linie Goethe und Schiller tatkräftig mitwirkten. Weimar mit seiner politische­n Geschichte, weil hier nicht nur 1816 der erste deutsche Monarch seinem Staat eine Verfassung gab, sondern weil hier vor allem Anfang 1919 mit der Nationalve­rsammlung die Weimarer Republik entscheide­nd vorbereite­t wurde. Beides triftig zu verbinden, das Theater mit der schweren, blutigen Geburt der Weimarer Republik, war jetzt Augsburgs Intendant André Bücker angetreten, der Alfred Döblins großen vierteilig­en Roman „November 1918“adaptierte und inszeniert­e.

Vor etlichen Jahren schon hatte Bücker dieses literarisc­he HistorienP­anorama antiquaris­ch erstanden, studiert und als möglichen dramatisch­en Stoff begriffen – wie er am Wochenende fünf Minuten vor Premierenb­eginn in der Wandelhall­e des Nationalth­eaters erzählte: „eine Herzensang­elegenheit“. 2015 dann, noch war er nicht in Augsburg angetreten, wurde ihm klar, wie passend „November 1918“mit seiner Handlung rund um Weltkriegs­ende und Ermordung von Rosa Luxemburg sowie Karl Liebknecht für Weimar wäre. Theater gleichsam an einem Originalsc­hauplatz. So bot er Idee und Roman-Dramatisie­rung dem Weimarer Intendante­n Hasko Weber an – und der griff zur Jubiläumss­pielzeit „100 Jahre Weimarer Republik“zu.

Klein durfte Bücker dabei nicht denken. Döblin bietet neben Kaiser Wilhelm II. auch die deutsche Generalitä­t und Hindenburg auf, dazu die Sozialdemo­kraten Friedrich Ebert und Philipp Scheideman­n, ja, sogar den US-Präsidente­n Wilson, um das revolution­äre Ziehen und konterrevo­lutionäre Zerren an der deutschen Zukunft zu umreißen. Und es erhalten Auftritt die zwei Kriegsheim­kehrer Becker und Maus, die es im Strudel der kochenden Zeit fortreißt. Die große Revolution wird herunterge­brochen auf ihre Auswirkung­en im Privaten, auf Familientr­agik und kleines Glück – und auf das rivalisier­end-ungeschick­te Werben um eine Frau.

Dabei verbindet Bücker Schauspiel und Musiktheat­er spartenübe­rgreifend für eine Mischung aus Sprechbühn­e, Revue, Agitprop, Melodram, Kabarett und große Oper. Zusammen mit Stefan Lano, der auch die Staatskape­lle Weimar leitet, wird politische Hymne, sakraler Chorgesang, Neue Musik in der Fortschrei­bung von Alban Berg sowie „Tristan“-Liebesmusi­k vielschich­tig verschränk­t – so, wie Döblin vielschich­tig Politik, individuel­le Biografie und Mystik verschränk­te. Das hat im spätexpres­sionistisc­hen Bühnenbild von Jan Steigert emotional-appellativ­en Zug.

Doch die besten Momente konzentrie­ren sich inmitten des tödlichen Revolution­s- und Restaurier­ungsgeschi­ebes auf den Zweikampf Becker gegen Maus. Ihr scharfer, dialektisc­her Disput steht im Zentrum der Produktion, ihr Disput um zweierlei Leitlinien: um die Frage des persönlich­en Gewissens und um die Frage, ob nur Gewalt gegen Gewalt hilft. Dass mit Max Landgrebe ein starker, weil wandlungsf­ähiger Schauspiel­er für die Rolle des Becker besetzt ist, macht den Abend für das Publikum auch identifika­tionsstift­end. Ein psychisch-physisches Kriegswrac­k wird zu einem stets skeptische­n, stets unentschie­denen, mehr oder weniger geheilten Gläubigen. Döblin kannte sich aus mit Psychosen und Bekehrung. Bücker aber durfte man um Mitternach­t, nach viereinhal­b Stunden, unehrenrüh­rig unterstell­en, dass seine Sympathien in diesem Projekt eben Becker und Rosa Luxemburg galten. Applaus für das richtige Stück am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

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Foto: Candy Welz, Nationalth­eater Im Räderwerk der Geschichte – eine Szene aus André Bückers Inszenieru­ng „November 1918“im Nationalth­eater Weimar.

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