Augsburger Allgemeine (Land West)
Gerettete Musik
In Hannover werden jüdische Noten und Musikinstrumente gezeigt, die in der Pogromnacht durch viel Mut und mit viel Glück ihrer Vernichtung entgingen – auch in Schwaben
Hannover In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 setzten die deutschen Nationalsozialisten jüdische Gotteshäuser in Brand. Bei der Zerstörung von 1400 Synagogen und Bethäusern wurden auch Orgeln und Noten vernichtet. Dank mutiger Menschen konnte dies in einzelnen Fällen aber auch verhindert werden – ihnen ist die gerade in Hannover eröffnete Ausstellung „Die gerettete Musik“gewidmet. Zu sehen sind in der Villa Seligmann Notenbände, Plakate, Schallplatten, Fotos und Briefe. Auf Texttafeln wird erzählt, wie die einzigartigen Zeugnisse jüdischer Musikkultur im letzten Moment ihrer Vernichtung entgingen.
Da schleppte in der Pogromnacht beispielsweise Nathan Saretzki zusammen mit seinem Sohn 16 schwere Notenbände aus der brennenden Frankfurter Synagoge. Vor seinem Abtransport in ein Konzentrationslager übergab der Oberkantor seiner Haushälterin die Notenbände mit den Worten „Heben Sie das gut auf, bis ich wiederkomme!“Nathan Saretzki und seine Frau wurden 1944 in Auschwitz ermordet. 1998 gelangten die Noten ins Europäische Zentrum für Jüdische Musik der Villa Seligmann.
Andor Izsák, der das EZJM 1988 in Augsburg gegründet und den Sitz 1992 nach Hannover verlegte, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, jüdische Musikdokumente aufzuspüren und für die Nachwelt zu erhalten. In der Ausstellung wird auch eine Sammlung von Musikhandschriften des Krumbacher Kantors Isaak Lachmann präsentiert. Gernot Römer, ehemaliger Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, hatte den Kontakt zwischen Izsák und der Lachmann-Enkelin Ulrike Blum vermittelt, die die Noten 1989 dem EZJM zur Verfügung stellte.
Izsák will diese Musik auch zum Erklingen zu bringen. Dazu spielt der 74-Jährige auf einer der wenigen erhaltenen Synagogenorgeln aus der Vorkriegszeit, die er in einer katholischen Kirche in Mainz entdeckte. „Der Klang der Orgel in der Synagoge ist stark von der Romantik geprägt, während sich christliche Gemeinden am Barock-Ideal orientieren“, erklärt Izsák und fügt hinzu: „In der Kirche begleitet die Orgel die Gemeinde. In der Synagoge gibt der Kantor die musikalische Linie vor und bleibt nicht immer im dualen Tonsystem. Die Orgel schafft eine Verbindung zwischen ihm und dem Chor.“Dies ist auch bei Konzerten in der Villa Seligmann zu erleben (Programm unter www.villaseligmann.de), in deren Rahmen die Ausstellung bis Mitte 2019 besichtigt werden kann.
1810 soll der Rabbiner Israel Jacobson in seiner Privatsynagoge in Seesen/Harz den weltweit ersten jüdischen Gottesdienst mit Orgelmusik gefeiert haben. Die Synagogenorgel wurde in der Folge zum Symbol für die Reformbestrebungen jener Juden, die den Kontakt zu christlichen Gemeinden suchten.
Weitere Synagogenorgeln folgten unter anderem in Augsburg (1865), Fürth (1873), Nürnberg (1874) und München (1876). 1904 gab es in Deutschland 132 solcher Instrumente. Bei konservativen Juden wurde die Orgel dagegen als typisch christliches Instrument abgelehnt – was vielerorts zur Spaltung in orthodoxe und liberale jüdische Gemeinden führte.
Nach dem Holocaust verlor die Synagogenorgel ihren Platz in Deutschland – nur in einer Berliner Synagoge findet sich heute eine Orgel – eine digitale.