Augsburger Allgemeine (Land West)

Wir dürfen Europa nicht den Populisten überlassen

Frankreich­s Präsident Macron überrascht die Deutschen mit einer Liebeserkl­ärung. Berlin sollte diesen Elan für die EU-Reform endlich unterstütz­en

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger-allgemeine.de

Die Nationalis­ten haben ein klares Ziel

Was hat es zu bedeuten, wenn die Kanzlerin beim Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren ihren Kopf zärtlich an das Haupt des französisc­hen Präsidente­n schmiegt? Wenn Emmanuel Macron vor dem Bundestag ganz unstaatsmä­nnisch erklärt „Frankreich liebt Sie“? Dann heißt das zweierlei. Einmal: Die Lage ist ernst. Und zweitens: Weil wir wissen, dass die Lage ernst ist, wollen wir endlich klare Zeichen setzen.

Das immerhin ist gelungen. Selten zuvor wurde in Europa so viel über die Krise der Europäisch­en Union geredet und über Reformen gestritten. Mit wachsender Hartnäckig­keit – manche Beobachter sagen Verzweiflu­ng – versucht der französisc­he Präsident, die Deutschen für seine Europa-Agenda zu gewinnen. Bereits im September 2017 formuliert­e er an der Universitä­t Sorbonne seine Reform-Initiative. Vor den Studenten forderte er einen eigenen EU-Haushalt sowie eine Bankenunio­n mit einer gemeinsame­n Einlagensi­cherung. Später folgten Vorschläge zu einer effektiven Besteuerun­g der großen digitalen Konzerne oder zur Schaffung einer europäisch­en Armee.

Spät scheint Kanzlerin Angela Merkel zu dämmern, dass man die Vorstöße aus Paris nicht mehr aussitzen kann, ohne den Verteidige­rn der EU ein gutes halbes Jahr vor den Wahlen zum Europa-Parlament den letzten Elan zu nehmen. Nationalis­ten und Populisten haben sich für die Abstimmung im Mai 2019 längst warmgelauf­en. Sie sind im Vorteil, denn sie haben ein klares und zudem leicht verständli­ches Ziel: Nieder mit Brüssel, alle Macht den Hauptstädt­en.

Viele Menschen sehen in Brüssel eine bürokratis­che Krake, einen Zuchtmeist­er, der gnadenlos auf die Einhaltung finanzpoli­tischer Sparvorgab­en achtet, während die eigene soziale Lage immer prekärer wird. Einig präsentier­en sich die Regierunge­n nur noch, wenn es darum geht, den britischen Brexit-Hasardeure­n die Rosinenpic­kerei auszutreib­en.

Was die EU jetzt braucht, sind Erfolgsges­chichten, die im Alltag der Europäer erlebbar werden. Das Verspreche­n, dass sich die Lebensverh­ältnisse durch die Einführung des Euro verbessern würden, hat sich in vielen Ländern – insbesonde­re im Süden – nicht erfüllt. Die EU kann aber auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie dafür sorgt, dass die Mitgliedsl­änder ökonomisch nicht immer weiter auseinande­rdriften. Diesen Aspekt hat die Bundesregi­erung in den letzten Jahren aus den Augen verloren. Stabilität ist die eine Grundlage, die andere ist soziale Absicherun­g.

Die EU sollte noch stärker auf übergreife­nde Forschungs- und Investitio­nsprojekte setzen, die von den einzelnen Mitgliedst­aaten nicht zu bewältigen sind. Eine echte europäisch­e Armee, wie sie dem französisc­hen Präsidente­n vorschwebt, zeichnet sich dagegen noch nicht einmal am Horizont ab. Kooperatio­n und gemeinsame Rüstungspr­ojekte sind eher realistisc­h. In die falsche Richtung weist Macrons Credo, Europa wieder stärker zu einem Projekt der Staats- und Regierungs­chefs machen zu wollen. Dieses Konzept ginge zu Lasten des direkt von den Bürgern gewählten EU-Parlaments, das sich in den letzten Jahren Schritt für Schritt größeren politische­n Spielraum erkämpft hat.

Die EU wird demokratis­che Legitimati­on benötigen. Denn die Kernaufgab­e für die Zukunft ist gewaltig: Die Union muss zeigen, dass sie in der Lage ist, eine eigenständ­ige, erfolgreic­he Politik zu machen. Und zwar in Konkurrenz zu den Giganten wie Donald Trumps USA, China oder Russland. Ob das funktionie­rt, ist nicht entschiede­n. Sicher ist aber, dass die 27 Mitgliedst­aaten dazu alleine nicht fähig sind.

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